Abstract zu Welt, Struktur, Denken. Philosophische Untersuchungen zu Claude Lévi-Strauss
Wenn überhaupt einmal von
Claude Lévi-Strauss’
Strukturalismus
sub specie philosophiae die Rede ist, dann nur auf dem Hintergrund und im Kontext des sogenannten
Post-Strukturalismus. Als gewiß gilt, daß vom linguistischen Strukturalismus
Ferdinand de Saussures eine Linie über
Roman Jakobson und eben Lévi-Strauss zu Figuren wie
Jacques Lacan,
Roland Barthes,
Jacques Derrida führe. Dies als Irrtum zu kennzeichnen und zu korrigieren, ist ein Hauptziel der
Philosophischen Untersuchungen. Damit geht einher, Lévi-Strauss’ Strukturalismus philosophisch und wissenschaftstheoretisch neu zu bewerten und in sein eigentliches Recht zu setzen.
Worin besteht dieser eigentliche Anspruch? Darin, den dialektischen Materialismus Marx’, Engels’ und Lenins mit jenen Erkenntnissen zusammenzuführen, die wir einesteils den phonologischen Studien Nikolaj Trubeckojs und Jakobsons, andernteils den seit den 1950er Jahren erfolgreichen kybernetischen und Informationstheorien Claude Shannons, Warren Weavers und Norbert Wieners verdanken. Diese Erkenntnisse erlauben es Lévi-Strauss, das Basis-Überbau-Schema genauer zu bestimmen und zu erweitern. Während im historisch-dialektischen Materialismus die Beziehung von materieller Infrastruktur und Ideologie oft sehr simpel und daher falsch dargestellt wird, ergänzt es der strukturalistisch gewendete dialektische Materialismus Lévi-Strauss’ durch eine weitere Ebene. Zwischen Basis und Überbau wirken und vermitteln genau beschreibbare mentale/kognitive Operationen. Worauf sie sich beziehen und welchen Zweck sie dabei erfüllen, veranschaulicht Lévi-Strauss zunächst in seiner epochalen Arbeit La pensée sauvage, sodann in den insgesamt zweitausendseitigen Mythologiques.
Während der sogenannte Post-Strukturalismus dem historisch-dialektischen Materialismus diametral gegenübersteht, macht Lévi-Strauss es sich zur Aufgabe, letzteren fortzuentwickeln und eine Theorie des Überbaus zu entwickeln. Daß dies im Hinblick auf autochthone Gesellschaften geschieht, ist ein Vorteil. Lévi-Strauss vermeidet so von vornherein, seine Theorie über die Funktionsweise des menschlichen Geistes ethnozentrisch zu verengen. Da er, des weiteren, nie den incontestable primat (unbestreitbaren Vorrang) der Basis leugnet, steht er in einem scharfen Gegensatz zu eben jenen Theorien, die man als post-strukturalistisch bezeichnet und deren Grundannahme darin besteht, daß Welt sich in Textualität auflöse und Denken unmöglich außersprachlich verankert sein könne. Ein weiteres Ziel der Untersuchungen besteht folglich darin, die grundsätzliche Unverträglichkeit des Strukturalismus mit dem sogenannten Post-Strukturalismus herauszustellen.
Nicht zuletzt ist es darum zu tun, Lévi-Strauss als Philosophen und seinen Strukturalismus als philosophische Erscheinung zu plausibilisieren. Dies erfordert einen Umweg in dem Maß, wie Lévi-Strauss sich selbst als Nicht- und sogar als Anti-Philosoph bezeichnet. Zu zeigen ist, weshalb Lévi-Strauss die Philosophie (zu Unrecht) ablehnt und sein Strukturalismus genuin philosophisch ist. Was den ersten Punkt angeht: Lévi-Strauss lehnt die Philosophie ab, weil sie introspektiv sei und daher niemals von sich selbst Abstand nehmen könne. Die Untersuchungen gehen diesem Vorwurf nach, indem sie eine (notwendigerweise eingeschränkte) historische Darstellung der philosophischen Introspektion geben. Zweitens ist eine neue, erweiterte Philosophie-Bestimmung zu skizzieren, die ALLE philosophischen Richtungen und Schulen erfaßt und auch Lévi-Strauss’ Strukturalismus als philosophische Erscheinung zu erklären erlaubt.
Zusammengenommen: 1.) Lévi-Strauss’ Strukturalismus ist nicht das logische und diskursive Prius des sogenannten Post-Strukturalismus. 2.) Lévi-Strauss’ Strukturalismus erweitert und ergänzt den dialektischen Materialismus. 3.) Lévi-Strauss ist trotz seiner anti-philosophischen Grundeinstellung Philosoph, und Lévi-Strauss’ Strukturalismus ist genuin philosophisch. 4.) Philosophie ist das Produkt eines bestimmten Denkmodus, der nicht nur in jenen Diskursen zutage tritt, die sich selbst als philosophisch verstehen und bezeichnen.