Blog

von Marcus Dick 10. November 2024
Geschichtliche Begebenheiten, sagt ein bekannter Spruch, ereignen sich zweimal: einmal als Tragödie, als Farce das andere Mal. Aber was, wenn das erste Mal bereits eine Farce war? Folgt dann die Reprise als Tragödie? Oder als Farce²? Vorerst noch bleibt Donald Trump (DT) Hauptprotagonist einer grotesken Farce. Ganz grundsätzlich: So einer wie DT, sowas wie die MAGA-Bewegung, kann nur in einer Gesellschaft/Kultur entstehen und reüssieren, deren Universalcharakteristika Bigotterie, Misologie und Raffgier sind. Dass Menschen sich nach Führer-Figuren sehnen, sich von „Ressentiments-Idealen“ (Friedrich Nietzsche) leiten lassen, ist nichts Neues. Richtig ist ferner: Der politische Trend geht weltweit nach rechts. Was den Trumpitalismus von anderen autoritären bis faschistischen Entwicklungen unterscheidet, ist das Ausmaß, in dem DTs Dummenfang und der politische Analphabetismus seiner Anhänger einander ergänzen und gegenseitig bedingen. Der Trumpitalismus ist nur möglich, weil eine gigantische dumbing down -Industrie sich eines tief in der kulturellen DNA verankerten Outlaw-Fetischs angenommen hat. DTs Erfolg verdankt sich dem Umstand, dass zig Millionen US-Amerikanern und -Amerikanerinnen – DT selbst eingeschlossen – die dumbed-down reality der Medien zu einer zweiten Natur geworden ist. (DTs eigener TV-Konsum hat absurde Dimensionen und absurde Folgen .) DTs Erfolg verdankt sich dem Umstand, dass die Diskrepanz zwischen technologischer und geistiger Entwicklung in keinem Land größer ist als in den USA. Der Grad der geistigen Entwicklung bemisst sich u. a. daran, zwischen Realität und Fantasie unterscheiden zu können und es nicht klasse zu finden, wenn jemandem, buchstäblich oder metaphorisch, die Fresse poliert wird . So wie zig Millionen US-AmerikanerInnen meinen, dass Wrestling echt und es überhaupt, wie beim MMA , eine tolle Sache sei, jemandem in die Schauze zu hauen, glauben zig Millionen AmerikanerInnen, DT sei ein Selfmademan mit geschäftlichen und politischen Killerinstinkten. Es passt schon – Only in America! –, wenn DT auf seinem Krönungsparteitag und während seiner Siegesansprache an prominenter Stelle Personen aus der fake world of wrestling und der Welt des MMA zu Wort kommen lässt. (Man muss sich das einmal klarmachen: Der Möchtegern-Diktator DT lässt sich seinen Ruf als tough and aggressive leader vor der US-amerikanischen Öffentlichkeit von Gestalten bestätigen, die ihre Expertise dem Spektakel verdanken, dass Männer sich gegenseitig, zum Schein oder in echt, die Visagen einschlagen. (In Mike Judges Filmsatire Idiocracy fungiert ein ehemaliger Wrestler und Pornodarsteller als US-Präsident. Tatsächlich dürfte das Schäferstündchen mit Stormy Daniels DT bei nicht wenigen männlichen Wählern noch beliebter gemacht haben .)) Natürlich war Kamala Harris Wall Street’s candidate . Dass selbst progressive Medien daraus folgerten, Harris wäre nicht besser als DT, ist irritierend. Ein ins Faschistische übergehender Kapitalismus – eben in Form des Trumpitalismus – ist schlimmer als der artifizielle woke capitalism à la Harris. Unter Harris’ Administration hätte es keine nennenswerten Veränderungen gegeben. (2019 versprach Joseph Biden vor der Wahl seinen Geldgebern: „Nothing would fundamentally change.“ ) DTs Racket jedoch wird sich daranmachen, einen klepto-kapitalistischen Faschismus oder faschistischen Klepto-Kapitalismus zu installieren. Wenn linke Kommentatoren diesen Unterschied ignorieren, mag das vielleicht daran liegen, dass sie mit den MAGAisten den Hass auf die liberalen Eliten, deren Kandidatin Harris war, teilen. Der gemeinsame Hass auf die liberal globalists wäre dann größer als die Bereitschaft, zwischen dem centrist neoliberalism der Demokraten und dem ethno-nationalistischen Faschismus der MAGA-Bewegung einen Unterschied zu erkennen. DT hat weder vor, sich der sog. Vergessenen und Unterprivilegierten anzunehmen, noch plant er , weniger imperialistisch zu agieren als die Neocons. Wer glaubt, DTs Politik werde die Lebensumstände der sog. Vergessenen und Unterprivilegierten verbessern und global zu mehr Frieden und Stabilität führen, muss von Sinnen sein. Diejenigen seiner Wähler, die zu den sog. Vergessenen und Unterprivilegierten gehören und sich genau das erhoffen, müssen von Sinnen sein. Nach der für die Democratic Party so desaströsen Wahl liest und hört man, es sei wenig hilfreich, die Schuld für DTs Erfolg den Wählern zu geben. Korrekt ist : Niemand darf sich wundern, dass eine Partei, die ihre Wähler fortwährend im Stich lässt, irgendwann von ihren Wählern im Stich gelassen wird. Und doch zeugt es von fast krimineller Unzurechnungsfähigkeit, dass Abermillionen sich für eine Politik entscheiden, die ihren materiellen Interessen derart zuwiderläuft. (Ein apokryphes Churchill-Zitat lautet: „Wenn Sie ein gutes Argument gegen die Demokratie suchen, verbringen Sie fünf Minuten mit einem Wähler.“) DTs Anhänger, entsprechende Befragungen bestätigen das , sind für Abtreibungsrechte, bezahlten Mutter- und Elternschaftsurlaub, für die Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns, eine umfassende Gesundheitsversorgung etc. – und dennoch befördern sie mit ihrem Idol jemanden ins Amt, der dies alles kategorisch ablehnt. Womit wir wieder beim eigentlichen Problem wären: Mit DTs Wiederwahl ist die Verwandlung der US-amerikanischen Gesellschaft in eine reality TV - und social media -Gesellschaft abgeschlossen. Mit seiner Wiederwahl ist das, wovor Neil Postman vor fast 40 Jahren in Amusing Ourselves to Death gewarnt hatte, endgültig und unumkehrbar Wirklichkeit geworden: „How television [and social media] stage the world becomes the model for how the world is properly to be staged.“ Landesweit bekannt wurde DT als scheinbar sagenhaft erfolgreicher Immobilien-Tycoon in der Reality-TV-Show The Apprentice . Es ist dieses Image, das, trotz aller Hinweise darauf, dass er ein Serien-Pleitier und -Straftäter ist, unausrottbar persistiert und ihm ermöglicht hat, zwei Mal das Weiße Haus zu gewinnen . Das triviale Medienbild der Person DT – die mediale Fiktion der enter - und infotainment industry – überlagert jeden faktenbasierten Diskurs. Postman: „When a population becomes distracted by trivia, when cultural life is redefined as a perpetual round of entertainments, when serious public conversation becomes a form of baby-talk, when, in short, a people become an audience and their public business a vaudeville act, then a nation finds itself at risk; a culture-death is a clear possibility.“ DTs erneute Wahl ist der culture-death der US of A. Folgen werden der ökonomische und der politische Niedergang. Eine gute Nachricht ist das schon deshalb nicht, weil es auch dem Rest der Welt den Rest geben wird .
von Marcus Dick 27. Oktober 2024
Seit der Zeitenwende 1989/1990 ist in den Kultur-Rubriken der Qual.Medien das Ende des öffentlichen Intellektuellen ein beliebtes Thema. Denn: Wo es zum Neoliberalismus scheinbar keine Alternativen mehr gibt, wenn dessen Ideologie in jeder Hinsicht hegemonial geworden ist, besteht kein Grund, fundamentalkritischen Stimmen weiterhin Gehör zu schenken. Differenzierter zu sein als der Durchschnitt, darin bestand, sagen wir seit der Dreyfus-Affäre , die öffentliche Aufgabe des Intellektuellen. Ein Hauptkennzeichen des neoliberalen Dauer-Biedermeier ist die Einschmelzung aller Unterschiede zu einem ironischen Anything goes! oder zynischen Who really cares? Das allbekannte pseudo-selbstkritische Ritual vormaliger Intellektueller, ihren Frieden mit dem status quo zu schließen: Es folgt den Regeln neoliberaler Praxis und Moral. Wer mit den Wölfen essen will, der muss mit den Wölfen heulen. Gute Chancen, weiterhin in den Qual.Medien stattzufinden, hat der öffentliche Intellektuelle unter neoliberalen Bedingungen nur, wenn er seine eigene Obsoleszenz bejaht: seine Daseinsberechtigung nun darin sieht, nichts zu sehen, was gegen den status quo sprechen könnte. Ob Hans Ulrich Gumbrecht – u. a. ja auch Autor eines Buches über Sechzehn Intellektuelle des langen 20. Jahrhunderts – sich eines Tages dazu entschlossen hat, mit den Wölfen zu heulen und zu essen, weiß ich nicht. Fest steht jedoch, dass ein von ihm verfasster, in der NZZ erschienener Artikel über den US-Wahlkampf zum Dümmsten gehört, was bisher zu diesem Thema verbreitet wurde. (Da die Wahl in wenigen Tagen stattfindet, ist kaum anzunehmen, dass bis dahin ein noch einfältigerer Text auftaucht.) Der Artikel übererfüllt alle Merkmale eines Denkens, das zwischen Anything goes! und Who really cares? einfach abdankt. (Strafverstärkend wirkt: Gumbrecht besitzt seit 2000 die US-amerikanische Staatsbürgerschaft.) In aller Kürze: Gumbrecht meint, die politischen Differenzen zwischen Harris und Trump seien so gering, dass die Entscheidung der WählerInnen nicht ideologischen Prämissen, sondern nur persönlichen Sympathiegefühlen folgen könne. Die „Fernsehdiskussionen zwischen den Bewerbern für Präsidentschaft und Vizepräsidentschaft [haben] deutlich gemacht, dass ihre expliziten Zukunftsprogramme höchstens graduell voneinander abweichen.“ ( In Wirklichkeit verhält es sich so : „Many Americans [und Gumbrechts] do not understand that we are on the verge of a type of apocalypse in this country if Trump and his MAGA Republicans and the larger fascist movement win this week’s election. This lack of engagement may be from a lack of information or a failure of imagination. The future of the country is literally at stake. If we go over this cliff there’s no way back. The people who don’t understand the extreme dangers of Trump and MAGA are living in a fool’s paradise. The people who understand how dire this situation is are terrified right now. That is a rational response given the reality of the dangers.“) Gumbrechts false equivalences im Detail ad absurdum zu führen, kann man sich sparen. Klar ist: Präsidenten/Präsidentinnen der US of A werden immer Präsidenten/Präsidentinnen der US of A sein. Außenpolitisch werden die materiellen Notwendigkeiten des US-amerikanischen Neoimperialismus immer Priorität haben, unabhängig davon, ob der Mann/die Frau an der Spitze den Demokraten angehört oder den Republikanern. Innenpolitisch den Wünschen der US-Oligarchie zu entsprechen, wird ihm oder ihr, egal, ob DemokratIn oder RepublikanerIn, stets ein Hauptanliegen sein. Und doch ist es 2024 ausnahmsweise einmal nicht so, dass die Entscheidung zwischen den Kandidaten, wie sonst, der zwischen Coke und Pepsi gleicht, auf subjektive, allenfalls graduell voneinander abweichende Vorlieben hinausläuft. In welcher Blase lebt Gumbrecht eigentlich? Was rhetorisch gefragt ist. Seine Aufgabe als Intellektueller, der im Kulturteil der neoliberal-reaktionären NZZ stattfindet, besteht darin, die politischen Gefahren einer zweiten Trump-Präsidentschaft – eines fascist-leaning Christian ethno-nationalist capitalism – herunterzuspielen, indem er beiden Kandidaten attestiert, denselben unpolitischen, nachideologischen Fluchtpunkt zu haben. Ein extremer Fall von bothsidesism . Was Gumbrechts Artikel zum dümmsten aller US-Wahlkampf-Artikel macht, ist die Behauptung, dass auf die WählerInnen eine Entscheidung warte, „wenig Einfluss auf ihr individuelles Leben nehmen wird“. Damit spricht Gumbrecht, um nur ein Beispiel zu nennen, den Millionen Frauen, denen unter Trump ein nationales Abtreibungsverbot droht, zweifellos aus der Seele. Trump und Harris, so Gumbrecht, „verkörpern nicht mehr konzeptuelle Anweisungen für die Zukunft, sondern eher Bilder von angenehmer und deshalb zu bejahender individueller Existenz, mit denen sich ihre Anhänger identifizieren“. Dies im Einzelnen zu kommentieren, lohnt nicht. Es entspricht einer Ideologie, die sich post-ideologisch gibt, um von den ökonomischen, politischen, moralischen, intellekuellen Verheerungen, die sie anrichtet, abzulenken. Hier allen Gumbrechts dieser Welt zur Erinnerung, weshalb Trumps und Harris’ „Zukunftsprogramme“ NICHT „höchstens graduell voneinander abweichen“ und Trumps Vierjahresplan, wenn umgesetzt, die USA in eine faschistische Diktatur verwandeln würde. Trump hat u. a. versprochen bzw. angekündigt: – Joseph Biden und überhaupt alle politischen Gegner gerichtlich zu verfolgen – ihm unliebsame Medien zu verbieten – illegale UND legale Immigranten millionenfach erst in Lager zu sperren und dann zu deportieren – die Nationalgarde einzusetzen, um Obdachlose in Lager zu sperren – im Inneren Militär einzusetzen, um gegen Proteste vorzugehen – ein nationales Abtreibungsverbot zu erwirken – im großen Maßstab die Todesstrafe zurückzubringen – Preiserhöhungen in Kauf zu nehmen, die aus seiner Tarif-Politik resultieren würden – das Erziehungsministerium abzuschaffen und öffentliche Bildung, wann immer möglich, zu privatisieren – Gesundheitsprogramme, wann immer möglich, zu privatisieren – alle Umweltauflagen aufzuheben und der Industrie für fossile Brennstoffe freie Hand zu lassen – für Reiche erneut Steuern zu senken – keine Einschränkungen des Zweiten Verfassungszusatzes zuzulassen – Minderheitenrechte abzuschaffen – verurteilte Randalierer des 6. Januar 2021 zu begnadigen – die Befugnisse der Bundesregierung zu beschneiden und Karrierebeamte durch MAGA-Anhänger zu ersetzen – einen white Christian nationalism quasi als Staatsreligion zu etablieren – flächendeckend MAGA-RichterInnen zu ernennen (usw. usf.) Mithin eine klare Sache: Bei der Wahl Harris vs. Trump geht’s nicht wirklich um was, und ganz, ganz bestimmt ist Gumbrecht der gesellschaftlichen, der politischen Realität seiner Wahlheimat superdicht auf der Spur, wenn er davon überzeugt ist, ein Sieg Trumps würde das Leben der US-AmerikanerInnen kaum tangieren... Nachbemerkung I: Auf der Website der NZZ findet sich zum selben Thema ein Video-Interview mit dem Politologen Stephan Bierling ( abrufbar auf YouTube ). Ich habe es mir nicht angehört, doch sollte der Tenor des Gesprächs der Kurzbeschreibung entsprechen – „Harris ist auch nicht besser als Trump“, und „als Ursache für [die] Einigkeit zwischen Republikanern und Demokraten sieht Bierling den seit zwanzig Jahren jeweils äusserst knappen Ausgang der Präsidentschaftswahlen. [...] Die Wahlkampfparolen beschränkten sich infolgedessen meist auf Negativbotschaften, mit denen man den Konkurrenten zu diskreditieren versuche.“ –, könnte hier das Reflexionsniveau von Gumbrechts Artikel noch unterboten worden sein. Dass es Menschen gibt, die wirklich meinen, Harris und Trump seien gleich schlimm, ist schwer zu verstehen. Obwohl... Es gibt ja auch welche, die glauben, dass Immigranten die Haustiere ihrer autochthonen Nachbarn fangen und verspeisen. Oder die davon überzeugt sind, dass die Injektion von Bleichmitteln gegen COVID-19 schütze. Oder die den Einsatz von Atomwaffen zur Zerstörung von Wirbelstürmen klasse fänden. Oder die steif & fest behaupten, dass in US-Schulen, ohne die Zustimmung der Eltern natürlich, SchülerInnen geschlechtsangleichenden Operationen unterzogen werden. Oder die damit angeben, dass grabbing women by the pussy ihr Hobby sei . Oder die windmill noises für Walsterben und Krebs verantwortlich machen. Oder die erzählen, George Washingtons Kontinentalarmee habe als Erstes alle Flughäfen besetzt. Oder die sich sicher sind, dass Waldbrände verhindert werden könnten, wenn man regelmäßig den Waldboden harkt und putzt. – Je nun, die Welt ist voller Dumpftröten. Da kann man nichts machen, gell. Lässt sich nicht verhindern. Und überhaupt, es ist immer besser, wenn die Klügeren das Feld räumen. Im Grunde sind wir doch eh alle plemplem. Welcher Besserwisser will sich schon anmaßen zu entscheiden, wo die Grenze zwischen Gut und Schlecht verläuft. Es ist halt alles relativ. Nicht wahr? Am Ende doch total egal. Nachbemerkung II: Dass der Trumpitalismus in der NZZ und anderen Rechtsaußen-Medien Anklang findet, darf nicht überraschen. Trump ist nun mal der globale poster boy eines aus allen Zwängen entlassenen, mindestens parafaschistischen Ethno-Kapitalismus. Umso irritierender, dass auf der Linken – eigentlich ein Hort der Vernunft –, ebenfalls Stimmen laut werden, die es ablehnen, zwischen Trump und Harris groß zu unterrscheiden. Fast so dämlich wie Gumbrechts Artikel in der NZZ ist ein am 2.11. in der Jungen Welt veröffentlichter Beitrag . Wer tatsächlich meint, „dass es handfeste Gründe für das Abstimmungsverhalten [pro Trump] geben könnte“, dass „sich nichts Wesentliches ändern [wird], wer auch immer ins Amt komm[t]“, dem oder der ist nicht mehr zu helfen. So status quo-orientiert eine Harris-Präsidentschaft ausfiele: Sie wäre definitiv besser als das, was Trumps faschistische Kamarilla umsetzen würde . (Trump selbst ist bekanntlich außerstande, einen geraden Gedanken zu entwickeln und zielorientiert zu handeln.) Es ist doch nicht eine oberflächliche Wahl zwischen Neocons und Tech-Bros , die den US-Amerikanern und -Amerikanerinnen bevorsteht. Worauf sie sich im Falle einer erneuten Wahl Trumps einzustellen hätten, ist kein Geheimnis . Warum beteiligen progressive Medien sich daran, Trump zu normalisieren ? (Sollte er die Wahl tatsächlich ein zweites Mal gewinnen, werde ich die Antwort nachreichen ...)
Wahnsinn und Methode in der MAGAsphäre
von Marcus Dick 24. Juli 2024
Donald John Trump (DT) – Proto-Protagonist und prime propagandist eines late capitalist fascism / fascist late capitalism – entkommt einigen Kugeln , die er umgekehrt nur allzu gern echten oder eingebildeten Widersachern gegönnt hätte. Trumpisten ergehen sich nach diesem Ereignis in Behauptungen , von denen nicht immer klar ist, ob sie nur für die Galerie oder tatsächlich in vollem Ernst gemeint sind. Das Kriterium, Teil einer illusionären Gesamtkonstellation zu sein, erfüllen sie allemal. Spätestens seit DTs Wahlsieg 2016 gleicht eine Hälfte der US-amerikanischen Gesellschaft, Trumpworld , einem Möbiusband, dessen psychologische Vorderseite (Ressentiment, Bigotterie) eine sozio-politische Rückseite (Fragmentierung, Identitarismus) unendlich fortsetzt (und umgekehrt). Der reale gesellschaftliche Kontext verschwindet in dieser Schleife, die ein in sich geschlossenes System aufrechterhält, das, ohne Zugang zu den Bedingungen seiner Möglichkeit, sich selbst zugleich reproduziert und ad absurdum führt. Kein Wunder, dass hier Paranoia Platz greift. (Aus der Psychoanalyse weiß man, wie schwierig es ist, Illusionen, Fiktionen, Phantasmagorien zu decouvrieren, die einem Individuum heilig sind. Um wie viel schwieriger ist es noch, dies für Kollektive zu tun.) Hinter vorgehaltener Hand verhöhnt DT seine evangelikalen Gönner (von denen die meisten ohnehin nur des almighty Dollar wegen in the religious trade sind), während er andrerseits – ein Zeichen malignen Größenwahns – wirklich davon überzeugt ist , eine vorherbestimmte märtyrerhafte Mission zu erfüllen. Die Tatsache, um ein Haar einem Anschlag entkommen sein, wird, zusammen mit dem kurz zuvor vom Supreme Court gegebenen Immunitätsversprechen , das Gefühl des Auserwähltseins noch einmal verstärkt haben. DTs öffentliche Ehrerbietung gegenüber der Religion ist für die Galerie, aber todernst meint er es damit, dass ausschließlich er, als politischer Messias, die USA retten könne . So sehr die Rechten und Ultrarechten mit ihrem owning the libs für die eigene Galerie spielen, so ernst nehmen sie es mit ihrem Vorhaben, liberal America zu liquidieren. Was von außen betrachtet eine regressiv-phantasmagorische Konstellation ist – Faschismus on the brink of success –, erscheint der MAGA -Bewegung als Kampf um Freiheit & Gerechtigkeit. (DT: „I'm not an extremist at all. [...] Last week I took a bullet for democracy. “) Weil der Trump- bzw. MAGA-Kult auf nicht- bzw. postfaktischen Voraussetzungen beruht, mithin nur funktionieren kann, indem er seine Anhänger affektiv einbindet, wird die Fähigkeit, für die Galerie rituals of populism zu vollziehen und acts of incensement zu inszenieren, zu einer Kernkompetenz. Der Preis, der dafür zu zahlen ist, ist, abgesehen vom Bruch mit der Wirklichkeit, eine umfassende Selbst- und Fremdverdummung, in deren Folge alle Begriffe und Maßstäbe ihre Bedeutung verlieren und in ihr Gegenteil übergehen. Innerhalb der MAGA-Schleife gilt DT als rechtschaffener Mann, als unermüdlicher Advokat der plain folks of the land . Das wäre, wenn es nicht so absurd wäre, beinahe lustig. Ist erst einmal der Preis der Selbst- und Fremdverdummung entrichtet, wird die diametrale Verdrehung von Worten und Fakten zur zweiten Natur. Dass mitunter kaum zu entscheiden ist, ob solche Inversionen der Wahrheit Ausdruck von Berechnung oder Dummheit sind, mag daran liegen, dass eine Dummheit auch aus Berechnung begangen werden und Berechnung auch das Ergebnis von Dummheit sein kann. (Oder um auf die zwei Begriffe der Überschrift zu verweisen: Wahnsinn kann auch Methode haben, eine Methode auch wahnsinning sein.) Was also ist mit jenen Behauptungen, dass die Demokraten und Biden persönlich für den Vorfall verantwortlich seien , weil das Bedürfnis, DT als autoritären Faschisten darzustellen, linke Gewalt heraufbeschwöre? (Als wären es nicht umgekehrt und ausschließlich DT und der MAGA-Kult, deren politische raison d'être es ist, Hass zu schüren und zu Gewalt aufzurufen .) Gehören solche Behauptungen zur MAGA-Kernkompetenz politics as performance art oder sind sie wirklich ernsthaft gemeint? Berechnung oder Dummheit? Berechnete Dummheit oder dumme Berechnung? Vermutlich trifft alles zusammen zu. (In Mein Kampf betont Hitler, man müsse den Massen, um zu sie beherrschen und zu manipulieren, simple Feindbilder einhämmern (= Berechnung). Was andrerseits jedoch nicht ausschließt, dass er seinen eigenen Lügen aufsaß (= Dummheit).) Der Zweck des Ganzen ist jedenfalls, DT gegen jede Art von Kritik abzuschotten. Bekanntlich hat in Kulten der Führer immer Recht. Was der MAGA-Kult will , ist, Führer Trump von allen Fehlern freizusprechen, ihn heiligzusprechen. Als wäre das nicht schon beunruhigend genug, beginnt diese Strategie über die Trumpwelt hinaus zu wirken. Joseph Biden und die Demokratische Partei (bzw. deren Führung) haben nach dem Attentat entschieden, auf aggressives Anti-Trump-Campaigning zu verzichten . Biden – Dauerziel Trumpscher Beleidigungen – entschuldigte sich für frühere Äußerungen . Der Zwischenfall in Butler/Pennsylvania war das Beste, was DT passieren konnte. Er wird dessen Märtyrer-Image festigen , vor allem aber als Vorwand dienen, um Angriffen der Demokraten mit dem scheinheiligen Hinweis den Wind aus den Segeln zu nehmen, dass dies nur weitere Gewalttaten provoziere. Und das vor dem Hintergrund, dass es nach wie vor und jetzt erst recht DT und die Seinen sind, die desinformieren, hetzen, auf Brutalität schwören – doch die nun nicht mehr als die Gefahr bezeichnet werden können, die sie für die andere Hälfte der Amerikaner darstellen (und, nebenbei, für die Zukunft des Planeten ), ohne sich damit den Vorwurf einzuhandeln, eine Gewaltspirale in Gang zu setzen. Gewaltverherrlichung, Desinformation und Hetze gegen sog. Volksfeinde stehen nunmehr auf der gleichen Stufe wie Bestrebungen, Gewalt, Desinformation und Hetze zu verhindern. Dass Biden, die Demokratische Partei und kein kleiner Teil der nicht MAGAfizierten Bevölkerung sich aufs MAGA-Framing einlassen, ist verblüffend . Es erlaubt dem Möchtegern-Diktator DT und seiner Anhängerschaft, das Narrativ zu kapern und weiter daran zu arbeiten, das Coup-Experiment von 2021 zu vollenden. Es erlaubt James David Vance , DTs Vize-Kandidat, einerseits die Schuld für das Attentat Biden in die Schuhe zu schieben und andrerseits das Horten von Waffen als charakteristisches Merkmal des American spirit zu loben . ( Die vielen schwerbewaffneten rechten Milizen könnten ja noch für etwas gut sein .) Es erlaubt DT wie eh und je, und natürlich auch in seiner Dankesrede auf der Republican National Convention , die Demokraten dessen zu beschuldigen, was er selbst getan hat und weiterhin tut („criminalize dissent or demonize political disagreement“; „weaponizing the justice system and labeling their political opponent as an enemy of democracy“). Das ist mehr als nur eine private Projektion. Es ist der vorläufige Endpunkt einer jahrzehntelangen Verblödungsstrategie, geführt mit allen Mitteln, die dem US-amerikanischen media-political complex zwischen Titty - und Infotainment , Televangelism und propagandistischem Agenda Setting zur Verfügung stehen. Das Desaster, das sich in den USA anbahnt, ist das Ergebnis eines unaufhaltsamen dumbing down . Selbst liberale Mainstream-Medien applaudierten DT für seine als kinoreif wahrgenommene heroic and iconic pose : die in die Luft gereckte Faust, der Ruf Fight! Fight! Fight! Womit sie nicht nur schale Hollywood-Clichés wiederkäuten, sondern einem Mann zumindest teilweise die Absolution erteilten, dessen einziges Ziel es war und ist, wie ein König zu herrschen. Wie ein König ist nicht hyperbolisch gemeint. Der Supreme Court räumte DT de facto absolutistische Befugnisse ein , und nach dem sog. Wunder von Butler sprechen ihm MAGAfizierte Medien königliche Eigenschaften zu . Die Mainstream-Medien tun im Zeichen falscher Ausgewogenheit nichts, um diese Idolatrie zu konterkarieren. Man darf mit Gore Vidal fragen : Wann begann in den Vereinigten Staaten der große Kretinismus? Wann wurden die Amerikaner wirklich dumm? Eine Wasserscheide war sicher die Aufhebung der fairness doctrine : jener zwischen 1949 und 1987 bestehenden Vorschrift der Bundeskommunikationskommission, derzufolge Inhaber von Rundfunklizenzen kontroverse Themen von öffentlichem Interesse in einer Weise darzustellen hatten, die ehrlich, gerecht, ausgewogen sein sollte. Die Beseitigung dieses politischen Grundsatzes unter dem Kretin Ronald Reagan ermöglichte die flächendeckende Entstehung/Verbreitung von talk radio -Stationen und, 1996, die Gründung des rechten Propagandasenders Fox News . Ohne Fox News läge der durchschnittliche IQ der US-Bevölkerung um einige Punkte höher, und ohne Fox New hätte es ein kretinistischer, megalomanischer Serien-Pleitier aus Gotham nie geschafft, Präsident zu werden und eine Hälfte der US-Bürger in Trumpheads zu verwandeln. Nachbemerkung I: Quasi zeitgleich zur Fertigstellung dieses Blog-Eintrags erklärte Joseph Biden seinen Rückzug von der Kandidatur. Das ändert nichts an der obigen Analyse, vielleicht aber etwas an der allgemeinen Prognose insofern, als es die Chance eröffnet, wieder mit mehr Vehemenz gegen den Trumpitalismus aufzutreten, als Biden zu investieren bereit oder fähig war. Nachbemerkung II: Als Strategie, dem Trumpitalismus zu Leibe zu rücken, hat sich inzwischen herauskristallisiert, seine Galionsfiguren als weird bzw. weirdos vorzuführen . Tatsächlich scheint das einerseits zu wirken. Andrerseits ist es symptomatisch für ein politisches Ökosystem, worin vernünftige Argumente, stichhaltige Beweisführungen, begriffliche Strenge, intellektuelle Reife nurmehr eine kleine bis keine Rolle spielen. MAGA-Faschisten als weirdos verspotten ist sicher lustig (inhaltlich zutreffend allemal), doch zu wenig, um dem, was auf dem Spiel steht, gerecht werden zu können.
ChatGPT et al. als Verdrängungsmaschinen
von Marcus Dick 21. Juni 2023
Alle Menschen eint, dass es vieles gibt, was sie nicht wissen. Und: Je mehr Wissen, desto mehr Nichtwissen auch. (Eigentlich ein Umstand, der alle einander näherbringen müsste.) Homo sapiens sapiens neigte freilich immer schon dazu, die Erfahrung seines Nichtwissens zu verdrängen, und die Unmöglichkeit, alles zu wissen, dadurch zu kompensieren, dass er an einem Anderen seiner selbst, worauf er den Wunsch nach Allwissenheit projiziert, Halt sucht. Ein pseudoneutrales Mittel, das quälende Gefühl des Nichtwissens zu verdrängen, lieferte ihm die Moderne in Form einer scheinbar unanfechtbaren Technik. Die Fetischisierung technischer Errungenschaften verleiht ihnen eine irrationale Wirkungsmacht, die sie gegen jede Kritik an der ihnen attestierten Fähigkeit, die Grenzen des Machbaren stets weiter zu verschieben, immunisiert. In der KI-Techno-Logik verbindet beides sich zu einer technizistischen Eschatologie/einem eschatologischen Technizismus. Der KI-Glaube vereint das Bedürfnis, die eigenen Begrenzungen zu kompensieren, indem man das, was man gern wäre, aber nicht sein kann, als Wunschbild projiziert, mit einer fetischisierenden Aufwertung von artificial intelligence , – der man bescheinigt, (bald) mit dem göttlichen Privileg der Allwissenheit ausgestattet zu sein. Intelligenz bedeutet, sich seines Bewusstseins bewusst sein zu können. Wissen bedeutet, etwas bewusst von etwas anderem unterscheiden zu können. Von künstlicher Intelligenz zu sprechen, ist irreführend. KI verfügt nicht über das, was Intelligenz und Wissen heißen darf. Es handelt sich nicht mal um eine Intelligenz- und Wissenssimulation. Etwas vortäuschen (simulieren) kann man nur, wenn man weiß und versteht, was vorgetäuscht werden soll. Algorithmische Systeme, wie z. B. ChatGPT, sind indifferent gegenüber jedem Sinn und jedem Sein. Sie verstehen nichts. Sie kennen und machen keinen Unterschied zwischen wahr und falsch, Absicht und Zufall, real und fiktiv, gut und böse, Empirie und Illusion etc. Indifferenz (Gleichgültigkeit) ≠ Neutralität (Unparteilichkeit). Dass algorithmische Systeme indifferent sind, heißt nicht, dass ihnen ihre Entwickler, sei᾿s bewusst und gewollt, sei᾿s unbewusst und unabsichtlich, keine Bias einprogrammieren. Die in den algorithmisch erzeugten Dateibeständen vorhandenen Informationen sind nicht wertfrei. Unter den gegenwärtigen Bedingungen verstärkt KI die Vor-Urteile ihrer Schöpfer und Anwender , codieren Algorithmen Meinungen, nicht Wissen. Des Weiteren ist KI unter kapitalistischen Produktionsverhältnissen kapitalistische KI. Im Kapitalismus validieren algorithmische Systeme die kapitalistische Normalität. Normalität ist immer das Produkt gesellschaftlicher Verhältnisse. Die von Chatbots wie ChatGPT kreierte Normalität – genauer: die einer blinden Prä-Selektion sich verdankende Normalität jener Datenwelten, die Chatbots wie ChatGPT kreieren – ist ein Resultat der sie formenden gesellschaftlichen Praxis. Selbstverständlich folgt der Einsatz von KI-Systemen im Kapitalismus – nicht nur auf der Ebene der Produktionsverhältnisse, sondern zumal auf der Ebene der Diskurse und kulturellen Leitbilder – der kapitalistischen Logik. (Wohingegen in einer auf Kooperation ausgerichteten Gesellschaft KI-Systeme idealerweise dazu beitrügen, eine humane, eine solidarische Welt zu schaffen.) Selbstverständlich werden die Informationen, die Chatbots wie ChatGPT bereithalten, solange den Prinzipien des allerkleinsten gemeinsamen Nenners gehorchen, wie KI Daten einer Gesellschaft verarbeitet, deren Hauptmerkmal ein allgemeines dumbing down ist. KI wird niemals schlauer sein als die Gesellschaft, deren Daten sie verwertet. Chatbots wie ChatGPT – und KI-Systeme per se – sind blind: außerstande, hinter die materiellen und ideologischen Bedingungen ihrer Möglichkeit zu kommen, geschweige denn, sie zu verändern. Man könnte KI-Systeme so programmieren und anwenden, dass sie die blinden Flecken ihrer Programmierer und Anwender neutralisieren. Was allerdings voraussetzte, dass Programmierer und Anwender sich erstens der Tatsache bewusst würden, blinde Flecken zu haben, und zweitens bereit wären, dieser Tatsache abzuhelfen. Das wird nicht passieren, solange das Ziel gesellschaftlicher Organisation und Planung nicht darin besteht, die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen zu beenden. Als Bedrohung nehmen die Menschen KI insoweit wahr, als sie sich selbst und einander mehr denn je zu Feinden geworden sind und die Verdrängung, die Verleugnung ebendieser Misere zur Signatur einer Gesellschaft gemacht haben, die nun zusätzlich zunehmend von anonymen, KI-induzierten Kontroll- und Steuerungsmechanismen bestimmt wird. Eine KI- oder Algorithmen-Herrschaft wäre die nächste Variante, die nächste Stufe jener Herrschaft der Sachzwänge, in die Menschen sich verstricken, weil ihnen das Ende der Welt einleuchtender vorkommt als das Ende des Kapitalismus. Eine KI- oder Algorithmen-Herrschaft wäre das ultimative Beispiel für selbstverschuldete Unmündigkeit. Die Verdrängung der selbstauferlegten Ohnmacht führt dazu, dass KI den Eindruck hinterlässt, alien (fremdartig) zu sein. In dem Maße, wie KI als künstliches Werkzeug im Zeichen menschlicher Unfreiheit – im Zeichen menschlicher Unterwerfung unter eine scheinbar autonome Techno-Logik – die reflexive Impotenz ihrer Entwickler und Nutzer spiegelt, erleben sie sie als unheimlich . Hier wiederholt sich, was wir bereits aus der Zeit der Romantik kennen. Damals waren es Automaten, von denen eine unheimliche Wirkung ausging, weil sie zum Gegenstand von Projektionen wurden, zu Verkörperungen dessen, was ihre Schöpfer unter den Verhältnissen der Gestalt annehmenden Konkurrenzwirtschaft bei sich selbst zu erkennen begannen: Produkte einer unkontrollierbaren, dunklen Macht zu sein, die sie hinter ihrem Rücken beherrscht und lenkt. (Um Büchners Danton zu zitieren: „Puppen sind wir, von unbekannten Gewalten am Draht gezogen; nichts, nichts wir selbst!“) Der Unterschied zum frühen 19. Jahrhundert besteht darin, dass die Mechanismen, durch die der Kapitalismus, nicht zuletzt im Zuge technischer Höherrüstung, Entfremdung hervorbringt, inzwischen bekannt und verstanden sein sollten. Die Fetischisierung von Technik dürfte Ausdruck einer halbbewussten Verzweiflung sein, der man zu entkommen sucht, indem man sich identifiziert mit jenen Kräften, deren unheimliche Macht man fürchtet. KI-Systeme figurieren als kybernetische Verstärker dessen, was eine Gesellschaft verdrängt und auf diese Weise normalisiert. Wenn sie, wie der Kapitalismus, nur existieren kann, weil sie ihre Schattenseiten verleugnet, weil nur diese Logik der Verdrängung ihr Funktionieren ermöglicht – sodass das Verdrängte ihre Normalität konstituiert (und zugleich latent bedroht) –, führt die Präsenz des Verdrängten in der kybernetischen Realität zu deus malus ex machina -Effekten. (Hekatomben von science fiction sind diesen Effekten gewidmet.) Selbstverständlich gibt es auch Köpfe, denen der Kapitalismus als höchste gesellschaftliche Entwicklungsstufe gilt, denen dessen Schattenseiten nicht nur egal sind, sondern als Zeichen der Überlegenheit erscheinen. Für solche capitalist Darwinists / Darwinist capitalists erfüllt der Advent neuer KI-Systeme die strahlende Vision eines sich selbst regulierenden kybernetischen Kapitalismus, in dem Algorithmen den Kostenfaktor Mensch weitgehend beseitigen. („ By AGI [artificial general intelligence], we [= OpenAI LP ] mean highly autonomous systems that outperform humans at most economically valuable work.“) – Verbreiteter freilich: das Gefühl, die Kontrolle über KI-Systeme zu verlieren und einer dystopischen Zukunft entgegenzugehen, darin Algorithmen Menschen bezwingen bzw. zwangsbeglücken. Einerseits die Heilserwartung einer auf kybernetische Effizienz setzenden KI-Ideologie, andrerseits die Ahnung, KI werde sich früher oder später gegen ihre Entwickler und Nutzer wenden: Zwei Seiten derselben Medaille. Die menschliche Erfahrung des Nichtwissens findet in der Faszination für eine scheinbar omnipotente algorithmische Intelligenz einen kompensatorischen Ausdruck, ohne so jedoch dem zugrunde liegenden Minderwertigkeitskomplex zu entkommen. Tatsächlich ist die Wirklichkeit der KI-Systeme der Effekt einer doppelten Verdrängung. Die erste Verdrängung betrifft das Moment der Fetischisierung von Technik als etwas, das übermenschliche Eigenschaften aufzuweisen und ein Eigenleben zu führen scheint. Die zweite Verdrängung gilt dem Umstand, dass die Bedingungen des gegenwärtigen zombie bzw. cannibal capitalism Minderwertigkeitsempfindungen aller Art und so den schlimmsten Tendenzen und Impulsen zumal des homo digitalis Auftrieb geben. Wie sehr, davon legen die algorithmisch gesteuerten Anwendungen und Inhalte der (a)sozialen Medien Zeugnis ab. Erst recht droht diese doppelte Verdrängung im Rahmen kybernetischer Groß- und Größtprojekte zu einem destruktiven Faktor zu werden. Solange der kapitalistische Imperativ herrscht, jeden Mist zu Gold zu machen und dabei alles Gold in Mist zu verwandeln, werden neue technologische Mittel wie Zerrspiegel wirken, die das spätkapitalistische Individuum zur Kenntlichkeit entstellen. Genauer: Die ihm seine Verdinglichung zur Erscheinung und ins Bewusstsein brächten, wenn es noch die Fähigkeit besäße, zu sich selbst und zur Gesamtsituation Distanz zu wahren. Die skizzierte zweifache Verdrängung unterdrückt jeden Gedanken an eine Mitverantwortung dafür, wie KI das intellektuelle und moralische Elend des Kapitalismus vertieft. Die Kreativität der KI erschöpft sich darin, den status quo – also Verdinglichung – zu reproduzieren. So, wie der Kapitalismus jeden Widerstand, jede Subversion aufsaugt, entkräftet, so grotesk dünkt KI-Entwickler und -Nutzer die Behauptung, nicht in der tendenziell wünschenswertesten aller Welten zu leben. Was umso absurder, pathologischer ist, als die gesellschaftliche Grundstimmung überall ins Depressive umschlägt. Man spürt, den Produktionskräften ausgeliefert zu sein. Doch während es bis in die 1980er-Jahre hinein ein Bewusstsein für die Perfektibilität der Welt gab, hat sich seitdem die Ansicht durchgesetzt, dass einem nichts anderes bleibe, als sich den Sachzwängen zu beugen. Die KI-Techno-Logik führt zu neuen Erfahrungen des Ausgeliefertseins. Welche ihrerseits den Eindruck festigen, im Griff einer übermenschlichen, alienhaften KI-Macht zu sein. Die neuen KI-Technologien und -Techniken verringern nicht die Entfremdung des spätkapitalistischen subiectums , sie steigern sie. So oder so: Die, je nachdem, entweder erhoffte oder befürchtete Herrschaft der KI wäre die Herrschaft des nicht zu einem Bewusstsein seiner selbst fähigen automatischen Subjekts. Vor allem aber übernimmt KI jene Rolle einer menschlicher Verfügbarkeit sich entziehenden Gewalt, die früher Gott oder die Natur innehatten. Gott , Natur , KI als Potenzen, deren Macht sich allein der Projektion menschlicher Ohnmachtserfahrungen verdankt. Es spricht nicht für ihre Lernfähigkeit, dass KI-Diskursler Denkweisen wiederbeleben, die bereits im 19. Jahrhundert ad absurdum geführt wurden. Ein vorläufiges Fazit? Der traurige Witz des ganzen Hypes besteht darin, dass KI nicht dem menschlichen Geist immer ähnlicher wird, sondern, im Gegenteil, der menschliche Geist sich immer mehr dem rein Reproduktiven und Passiven der KI anpasst.
Listenwahn(sinn)
von Marcus Dick 15. Januar 2023
Tiere habenʼs leicht(er). Sie finden, evolutionär determiniert, ihren Platz in ihrer (Um)Welt instinktiv. Dem Menschen hingegen – evolutionär gemodelt, aber nicht determiniert – fehlt das instinktive Wissen, was wann wie zu tun sei. Er kompensiert diesen Mangel durch das, was man als Kultur bezeichnet. Ohne sie könnte er nicht überleben. (Weshalb er lieber und nicht selten mit aller Gewalt an den Objekten seiner kulturellen Identität festhält, als Orientierungs- und Hilflosigkeit zu riskieren.) Menschen formen und regulieren ihr Verhalten in der Welt zur Welt – sie verhalten sich in ihr zu ihr –, indem sie, um einen Begriff von G. Deleuze und F. Guattari aufzunehmen, Ritornelle generieren: das Material der Welt strukturierenden = Chaos in Ordnung verwandelnden semiotischen Markierungen und Transformationen folgen, die, in einer labil erscheinenden (Um)Welt Stabilität und Sicherheit stiftend, gegen weitere chaotische Gefährdungen schützen. Beispiel: „Un enfant dans le noir, saisi par la peur, se rassure en chantonnant. Il marche, sʼarrête au gré de sa chanson. Perdu, il sʼabrite comme il peut, ou sʼoriente tant bien que mal avec sa petite chanson. Celle-ci est comme lʼesquisse dʼun centre stable et calme, stabilisant et calmant, au sein du chaos.“ ( Mille plateaux , Paris 1980, S. 382) [„Ein Kind in der Nacht, gepackt von der Angst, beruhigt sich, indem es vor sich hin singt. Es geht weiter, es hält an im Einklang mit seinem Lied. Hat es sich verlaufen, schützt es sich, so gut es kann, durch sein kleines Lied, oder es orientiert sich an ihm, so gut es geht. Sein kleines Lied ist so etwas wie der Entwurf eines stabilen und ruhigen, eines stabilisierenden und beruhigenden Zentrums mitten im Chaos.“] Allgemeiner: Ein Ritornell „agit sur ce qui lʼentoure […] pour en tirer des vibrations variées, des décompositions, projections et transformations. [Die Funktion eines Ritornells ist] non seulement augmenter la vitesse des échanges et réactions dans ce qui lʼentoure, mais assurer des interactions indirectes entre éléments dénués dʼaffinité dite naturelle.“ (Ebd., S. 430) [Ein Ritornell „wirkt ein auf das, was es umgibt […], um daraus verschiedene Schwingungen, Gliederungen, Übertragungen und Veränderungen zu gewinnen.“ Die Funktion eines Ritornells besteht nicht nur darin, „in dem, wovon es umgeben ist, die Austausch- und Reaktionsgeschwindigkeiten zu verstärken, sondern auch darin, indirekte Wechselwirkungen zwischen Elementen zu gewährleisten, die einer natürlichen Affinität entbehren.“] Ritornelle bannen die Kräfte des Chaos insoweit, als sie durch „une activité de sélection, dʼélimination, dʼextraction“ – durch eine Tätigkeit der Auswahl, der Verdrängung, der Ausklammerung – einen als sicher empfundenen „espace intérieur“, einen inneren Raum, zeitigen (ebd.). Ritornelle gibt es überall. In jeder Abgrenzung eines Innen von einem Außen, in jedem Sprung „du chaos à un début dʼordre dans le chaos“ (ebd., S. 382) – in jedem Sprung aus dem Chaos zu einem Beginn von Ordnung im Chaos –, erkennen wir ihren dreifachen Effekt: Markierung, Zentrierung/Strukturierung, Codierung. Ein besonders häufig auftretendes Ritornell des Alltags – bei Deleuze und Guattari findet sich dieses Beispiel nicht – ist das Erstellen von Listen. Listen ordnen/strukturieren Welt durch Ex- und Inklusion. Sie geben denen, die sie anfertigen, das Bewusstsein, ein Mittelpunkt zu sein (die Befriedigung, einen Mittelpunkt zu setzen). Sie etablieren eine Hierarchie semiotischer Codes. Im besten Fall verhelfen Listen zur Orientierung, dienen sie als Mittel, Welt zu de-chaotisieren. Im schlechtesten Fall sind sie Zeugnisse einer Pathologie: eines gestörten Verhältnisses zur Wirklichkeit bzw. einer forcierten Anpassung an eine gestörte Wirklichkeit. Im Grunde handelt es sich bei den Ritornellen um Modi des In-der-Welt-Seins. Ritornelle sind mit ihrer Umgebung verbunden, sie gewinnen aus ihr ihre Struktur. Sie erlauben, sich der Welt zu adaptieren und deren Möglichkeiten zu explorieren. Aber was, wenn die Welt, an die man sich anzupassen, deren Möglichkeiten man zu explorieren sucht, verrückt geworden ist? Dann werden auch die Modi des In-der-Welt-Seins Anzeichen der Verrücktheit aufweisen. Wenn die Welt, in der man steht, es einem schwer macht, vernünftig auf sie zu reagieren, gerät man nolens volens ins Gravitationsfeld des Pathologischen. Die zwanghafte, exzessive Fixierung auf Listen – die fixe Idee, sich in der Welt zu ihr primär durch das Ritornell Liste verhalten zu können – ist das Symptom einer pathologischen Störung. Die zwanghafte, exzessive Fixierung auf Listen ist ein semio-systemisches Hauptmerkmal der Gegenwart. Also steht die Gegenwart im Zeichen pathologischer Verhältnisse. Eine Gesellschaft, der es als ausgemacht gilt, dass das, worüber sie nachzudenken hätte, sich mittels Listen und rankings fokussieren lasse, ist verrückt geworden. Die Liste, das ranking , scheint heute als die letzte verbliebene Möglichkeit zu gelten, die Vielfalt der Wirklichkeit in eine synthetische Einheit zu bringen. Das Erstellen von Ranglisten hat das Denken in Begriffen so gut wie vollständig ersetzt. Das Listenmachen ist zur vorherrschenden Form des Weltzugriffs, die Liste, das ranking , zum Ritornell aller Ritornelle geworden. Kein Phänomen bleibt von der Manie verschont, sich dadurch in ein Verhältnis zu ihm setzen, dass man es listet, rankt . Einer Sache auf den Grund gehen bedeutet nurmehr, sie in eine Rangliste aufzunehmen, einzureihen. Die Rangliste, kann man sagen, ist das System der dummen Kerle. Was sie, ohne sich darüber im Klaren zu sein, tun, ist, Dinge, Eigenschaften, Tätigkeiten, Verhaltensweisen daraufhin zu evaluieren, ob und inwieweit sie den Maßstäben einer pathologischen Welt standhalten. Diese Welt, in der man sich Stabilität und Sicherheit dadurch verschafft, dass man Ranglisten erstellt – in der allein das Ritornell Liste Stabilität und Sicherheit stiftet –, ist die dümmste aller möglichen Welten. Sich in der Welt zu ihr so zu verhalten, dass man sie darauf reduziert, Material für Ranglisten zu liefern, entspricht ganz dem im Neoliberalismus geltenden Verhältnis von Teil und Ganzem. Die Pathologie des Ritornells Liste folgt einer Logik, nach der es möglich sei, Teile zu bestimmen, ohne um das Ganze zu wissen, und ein Ganzes überhaupt nur dann eine Rolle spiele, wenn es dem Einzelnen einen Vorwand gibt, etwas für sich herauszuholen.
Die Zukunft der Musik
von Marcus Dick 12. Dezember 2022
Nicht erst seit COVID haben es freischaffende Musiker aller Genres und Couleurs mit Bedingungen zu tun, die kaum mehr sichere Existenzen ermöglichen. Das hat Gründe, die hier nicht weiter interessieren sollen. Nur so viel: Im capitalist realism verlieren die Leute, ob sie wollen oder nicht, jeden Sinn für Nuancen und Details. Musik zu lieben heißt aber, Nuancen und Details zu lieben. Je abgestumpfter der allgemeine Sinn für Nuancen und Details, desto geringer die Wahrscheinlichkeit, dass Musik aufs Neue die Bedeutung erlangt, die sie noch, im Großen & Ganzen, bis zum Beginn der Download- und Streaming-Ära gehabt hatte. Wohin führt das? In Verhältnisse, in denen Musik, ökonomisch und kulturell, immer weniger zählt. (Spotify lässt pro Klick 0,3 Cent springen; auch Tourneen sind nicht länger einträglich .) Wenn, wovon auszugehen ist, diese Entwicklung anhält, werden Musiker sich in einer Lage wiederfinden, die dem entspricht, was bis weit in die Neuzeit hinein galt: Sie werden erneut einen einheitlichen gesellschaftlichen Stand bilden, dessen Hauptkennzeichen Armut ist, vielleicht erneut buchstäblich auf der Straße arbeiten, um dort ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Musiker als verdächtige, weil am gesellschaftlichen Rand existierende Gestalten. Eine umso absurdere Situation, als das heutige Niveau musikalischer Fähigkeiten Lichtjahre von dem früherer Musiker-Generationen entfernt ist. (Ohnehin passé: Zeiten, in denen es sich ökonomisch und sozial auszahlte, etwas zu können.)
Buhrows Breitseite
von Marcus Dick 21. November 2022
Dass in öffentlich-rechtlichen Funkhäusern die Verabsolutierung der Quote mit einer Abwertung des Bildungs- und Kulturauftrags einhergeht, ist nichts Neues. Klar auch, dass Institutionen Eigendynamiken entwickeln, deren treibende Kräfte eher systemischer als persönlicher Art sind. Die Zwänge einer Institution sind i. d. R. größer als die Handlungsspielräume derer, die in ihr wirken. Des Weiteren gilt, dass diese Eigendynamiken zu einer gesamtgesellschaftlichen Dynamik gehören. In einer Gesellschaft, deren Fetisch Profitabilität ist, geraten auch Anstalten des öffentlichen Rechts in Situationen, wo nur noch das Überleben zählt. Dennoch macht es einen Unterschied, wer innerhalb dieser Institutionen das Sagen hat und darüber (mit)entscheidet, wie und in welchem Maße die institutionelle Binnendynamik der gesamtgesellschaftlichen Dynamik gehorchen sollte. Die Kapitulation der Öffentlich-Rechtlichen vor einer wildgewordenen Markt-Logik ist so beschämend, weil die Entscheider/innen in den Sendern der gnadenlosen Kommerzialisierung nicht nur nicht entgegentreten, sondern sie selbst wollen und forcieren. Die Chuzpe, mit der sie sich freiwillig dem Gesetz des kleinsten gemeinsamen Nenners verpflichten, ist Ausdruck ihrer Genugtuung, endlich mit allem Schluss zu machen, was ihnen zuwider schon immer war. Nachdem WDR-Premiumdenker Thomas Buhrow in einer stilistisch kümmerlichen Rede mitgeteilt hat, was ihm durch den Kopf rauscht, weiß man, dass er just das, was nicht verhandelbar sein sollte, weil es die Welt zu einem besseren Ort macht, als Bürde empfindet. Für den Intendanten des größten deutschen Senders bilden weder Sport-Budgets ( ZDF : jährlich 200 Millionen Euro, ARD : jährlich 230 Millionen Euro) noch zahllose immergleiche Serien ein Hauptproblem (allein die Produktion der Tatort -Folgen schlägt mit über 60 Millionen pro Jahr zu Buche). Kostenintensives Dauerentertainment? Anscheinend voll OK. Obsolet vielmehr: die 24 Musikensembles der ARD (jährlich 170 Millionen Euro). Die freilich, anders als TV-Unterhaltung made in Dschörmenie , zur Weltspitze zählen. Um Qualität geht es also nicht. Was Buhrow und seine Brüder und Schwestern im Geiste antreibt – einschließlich der Forderung, nur ein einziges, deutschlandweites Kultur-Programm beizubehalten –, ist mitnichten der Wunsch, mit den vorhandenen Mitteln das bestmögliche Angebot zu gewährleisten. Ihr Ziel ist, im Namen eines Rundfunks, „der im 21. Jahrhundert angekommen ist“, endgültig das loszuwerden, was ihnen ohnehin als suspekt galt und nun unter dem Vorwand der Kosteneinsparung geopfert werden kann. (Dass Buhrow dem Chefdirigenten des WDR Sinfonieorchesters de facto ein Gespräch verweigerte , ist nur konsequent.) Im Sport- & Unterhaltungssegment kürzen? Undenkbar! Buhrow und seinesgleichen empfehlen , den Rotstift dort anzusetzen, wo noch, wenn auch bereits sehr eingeschränkt, Qualität herrscht und man noch, wenn auch im Rückzugsgefecht, die öffentlich-rechtliche Bildungs- und Kulturaufgabe erfüllt. Was soll man davon halten, wenn Buhrow meint, die ARD-Anstalten böten zu viel Kultur? Läge ihm ihr Bildungs- und Kulturmandat irgend am Herzen, täte er privat und als Intendant alles dafür, es zu schützen. Stattdessen befolgt er die Maxime, dass am Ende nur das zähle, was sich ökonomisch lohne. Eine Anpassungsleistung, die ihm, weil sie mit seiner persönlichen Überzeugung konform geht, leicht fällt. Eine Anpassungsleistung, die allerdings hinausweist über Einzelpersonen, weil es DAS Merkmal des homo neoliberalis ist, ALLES dem ökonomischen Kalkül zu unterwerfen. Den Gründern des öffentlich-rechtlichen Rundfunks wäre es nicht in den Sinn gekommen, dass der Umstand, haushalten zu müssen, eine Rechtfertigung dafür sein könne, die eigene Existenzberechtigung zu kassieren. Ihre im positiven Sinne bildungsbürgerliche Grundeinstellung wird zuschanden an einer Gegenwart, in der man meint, dass Kunst- und Kulturkram immer als Erstes dran glauben sollte . Das frühere Ziel, Bildung & Kultur zu fördern, entschuldigt Buhrow damit, dass der „kulturelle Bereich insgesamt gestützt werden [musste], weil er [nach dem Krieg] am Boden lag.“ Ob das so stimmt, können wir hier offenlassen. Nicht zu bestreiten ist hingegen, dass er HEUTE am Boden liegt und also erneut jede Anstrengung unternommen werden müsste, ihn zu stützen. Die öffentlich-rechtlichen „Veränderungen, die wir in einem Jahrzehnt sehen wollen“, laufen darauf hinaus, dass der neoliberale Anti-Intellektualismus, der nur allzu gut mit der allgemeinen Kulturferne der an den Schaltstellen der Macht sitzenden Baby-Boomern harmoniert, auch noch die letzten Kultur-Reste entsorgen wird. (Man erspare sich den Hinweis auf z. B. ARTE u. Ä., denn das wäre kein Gegenbeispiel, sondern eine Bestätigung.) Im Grunde ist es ganz einfach. Der Mensch bringt unentwegt Dinge hervor. Jene Dinge, deren Zweck eigentlich darauf hinausläuft, das Leben voller und reicher zu machen – Spiel, Kunst, Musik usw. – regredieren in einer Gesellschaft, deren Fetisch Profitabilität ist, auf den kleinsten gemeinsamen Nenner. Je unerbittlicher die Maßgabe, sich an ihm zu orientieren, desto geringer die Wahrscheinlichkeit, dass das Leben freier und schöner wird. Es wird um so fader und unzivilisierter, je kategorischer der ökonomische Totalitarismus auftritt. Je mehr eine Gesellschaft dem Verwertungswahn widersteht, je resoluter sie den Zumutungen der Markt- und Waren-Logik sich verweigert, desto zivilisierter ist sie. Ob es ihnen bewusst oder nicht: Die Buhrows dieser Welt verkörpern und verstärken ein anti-zivilisatorisches Ressentiment, das sie mit allen wichtigeren Kulturangelegenheiten verfeindet. Niemand zwingt sie, als Vollstrecker neoliberaler Ideen aufzutreten. Sie sind Überzeugungstäter, und ihre Mission besteht darin, die Medien-Realität in ein permanentes Spektakel zu verwandeln, das jeden Widerstand gegen die Waren-Werdung der Welt sinnlos erscheinen lässt.
E-Musik-Kritik anno 2022
von Marcus Dick 4. September 2022
E-Musik-Kritik ist allein unter zwei Voraussetzungen brauchbar. Zum einen dann, und nur dann, wenn den Kritikern die Werke, deren Aufführungen sie zu beurteilen sich erlauben, durch eigenes Partiturstudium bekannt sind. Zum anderen dann, und nur dann, wenn die Kritiker, im Fall gängiger Repertoirestücke, den Wert einer Interpretation einzuschätzen wissen, weil sie die jeweiligen Aufführungstraditionen und -usancen überblicken. Als Theater-Kritiker kann man die Aufführung eines, sagen wir, Shakespeare-Dramas nur dann angemessen beurteilen, wenn man den (Original)Text kennt und bereits mehrere Inszenierungen des Stücks gesehen hat. Als Musik-Kritiker kann man die Aufführung einer, sagen wir, Mahler-Symphonie nur dann angemessen beurteilen, wenn man die Partitur kennt und mit den gängigen Interpretationen vertraut ist. Keine Ahnung, wie es 2022 um Theater-Kritik steht. Klar ist jedoch, dass eine ernst zu nehmende E-Musik-Kritik nicht mehr existiert. Das hat mehrere Gründe – Kompetenzschwund, zunehmender Mangel an Tiefe, abnehmendes intellektuelles Interesse, Zeitdruck, ein allgemeiner Verlust von Maßstäben –, zeigt sich aber vor allem darin, wie nahezu alle E-Musik-Rezensionen Geschwätz ohne jeden Erkenntnisgewinn bieten. Was die sog. Stars der E-Musik-Branche betrifft, greifen dieselben Regeln wie in den U-Bereichen der Kulturindustrie (von Pop-Musik bis Film). Das Publikum wünscht sich Stars , die Industrie befriedigt diesen Appetit. Oder ist es die Industrie, die Stars verkaufen will und das Publikum darauf hin konditioniert? Vermutlich beides. Wenn das Publikum versessen ist auf Stars , ist die Industrie allzu bereit, diesem Wunsch, indem sie ihn künstlich nährt, nachzukommen. Dabei gilt, natürlich: Je jünger und fotogener, desto besser. Das neueste, von diversen Marketing-Abteilungen lancierte, Dirigentenwunder – ein Reklamebegriff, der seit dem sog. Wunder Karajan im Feuilletonsprech fest verankert ist – heißt Klaus Mäkelä . Dass der nicht unbegabt ist, scheint zuzutreffen. Dass ihn die Orchester, die er dirigieren darf, mögen, soll wohl stimmen. Also ist Mäkelä so gut wie der Ruf, der ihm vorauseilt? Wird die musikalische Realität den von Marketing-Abteilungen geschürten Erwartungen gerecht? Sicher nicht. Bezeichnend vielmehr ist, dass die E-Musik-Kritik an der Aufgabe scheitert, ein objektives Bild zu geben – denn das würde, wie gesagt, voraussetzen, vertraut zu sein mit den Partituren der aufgeführten Werke und mindestens einer Handvoll Referenzeinspielungen. Im Rahmen einer kleinen Tournee führte vor Kurzem das für seine Mahler-Tradition bekannte Concertgebouworkest Amsterdam unter der Leitung seines designierten Chefs Mäkelä Mahlers 6. Symphonie auf. Das Berliner Konzert wurde im Radio übertragen. Eine willkommene Gelegenheit, sich ein Urteil zu bilden. Tatsächlich gibt es wenige Stücke, die geeigneter wären als Mahlers Sechste, um die Leistungsbereitschaft und -fähigkeit von Orchestern wie Dirigenten auf die Probe zu stellen. Was nicht so oberflächlich gemeint ist, wie es klingt. Im Gegenteil. Die Sechste, diese „makrograph notierte Formel für einen unbekannt-dimensionalen Kosmos mit einer Katastrophe als Zentrum“ (Hans Wollschläger), exorziert jede philharmonische Gemütlichkeit. Sie sollte, wenn überhaupt ein Werk von Mahler, denen vorbehalten bleiben, die seine Werke nicht nur deswegen dirigieren, weil es, wie beim Concergebouworkest, Teil eines Anforderungsprofils ist. Nur wer an der höheren Wahrheit dieser Musik interessiert ist, sollte daran denken, sie aufzuführen. Was wiederum nicht so esoterisch gemeint ist, wie es klingt. Ob Dirigenten die höhere Wahrheit eines Werkes wie der Sechsten in sich aufgenommen haben, erweist sich daran, in welchem Umfang sie den musikalischen Herausforderungen der Partitur gerecht werden. Nichts ist lächerlicher als die Kritiker-Routine, Aufführungen, die objektiv hinter den Maßgaben des Notentextes zurückbleiben, phrasenreich zu bescheinigen, den Geist der Komposition getroffen zu haben. Als ob der Geist der Komposition je etwas anderes sein könnte als eine – zugegeben meta-physikalische – Eigenschaft des Notentextes. Wie zu erwarten, feierte die letztklassige E-Musik-Kritik anlässlich jener Gastspielreise großartige Triumphe. Die Palme gebührt Wolfgang Schreiber von der Süddeutschen Zeitung : „Ein ganz junger Klaus Mäkelä kommt, erlebt und dirigiert die Sechste mit brennender Intensität, die Kontrastgewalt des Kopfsatzes in der entflammtesten Körperspannung, die Scheinidylle des Andante in aller Zweideutigkeit, das Scherzo als grimmig-schöne Rhythmusschieflage und das Finale im Zwang zur Zerstörung aller Lebenskraft durch brutale Hammerschläge. Klaus Mäkelä beeindruckt durch Unruhe in der Ruhe und Willen zum Äußersten.“ Wie verfällt man auf so etwas, wenn die Aufführung, die zu besprechen man beauftragt worden war, alles Mögliche bot, aber gewiss nichts, was sich als intensiv, kontrastreich, doppelbödig, brutal, extrem usf. bezeichnen ließe? Schreiber war von 1978 bis 2002 Musikredakteur der Süddeutschen . Was sagt das über die Qualität dieses Qualitätsmediums? Im RBB meint ein Andreas Göbel, ohne mit einem Halbsatz näher auf Mäkeläs Mahler-Auffassung einzugehen und ein klitzekleines Beispiel parat zu haben: „Eine der besten Mahler-Aufführungen der letzten Jahre, eine absolute Sternstunde.“ Eine der besten – absolut – Sternstunde. Ohne jeden Beleg, ohne jedes Argument. Was für dummes Zeug. In der FAZ hingegen deliriert ein Lohnschreiber, dass Mäkelä zwar einerseits „keinen Akzent, kein überfallartiges Crescendo ungenutzt [habe] vorüberziehen“ lassen – was schlicht falsch ist –, doch andrerseits und dessen ungeachtet nicht in der Lage gewesen sei, „Mahlers düstere[n] Hintergrund“ spürbar zu machen und „abseits der bloßen Intensität auf den eigentlichen Klang des Orchesters einzuwirken“. Hä? Ausführlichere Auseinandersetzungen mit solchem Feuilletonquatsch erübrigen sich Worauf es ankommt: Sowohl die Claqueure als auch der einsame Nörgler von der FAZ haben keinen Schimmer. Ein Blick in die Partitur genügt, um zu erkennen, dass Mäkelä weit davon entfernt ist, den Angaben und Anweisungen des Notentextes punktgenau zu folgen (und die höhere Wahrheit der Musik zu finden). Stattdessen: abgemilderte Akzente und Crescendi, eingeebnete Kontraste, entschärfte Disparitäten, nivellierte Klangperspektiven, gesoftete Klangmischungen… Mäkeläs Mahler fällt so aus, wie man es vom Mainstream der Mahler-Interpretationen – der einen seiner hotspots in Amsterdam hat – gewohnt ist. Was die Rezensenten sog. Qualitätsmedien nicht daran hindert, in superlativischen Marketingjargon zu verfallen und zu behaupten, dass das, was sie gehört zu haben glauben und in Wirklichkeit gar nicht da war, dem Wesentlichen im Wege gestanden habe – dessen Verwirklichung freilich genau das vorausgesetzt hätte, was sie absurderweise kritisieren. (Genaugenommen ist diese Kritik doppelt töricht: Sie tadelt etwas, das gar nicht da war, das allerdings, wäre es vorhanden gewesen, zu jenem Ergebnis geführt hätte, das dem Kritiker vorschwebte.) Im Ernst: Wer liest, will, braucht so etwas? Die Sache ist die: Seriöse Musik-Kritik wäre nicht nur darauf aus, Laien Orientierung zu geben und Kennern neue Gesichtspunkte zu zeigen, sondern auch in der Lage und bereit, die Spreu vom Weizen zu trennen und der Tendenz zum kleinsten gemeinsamen Nenner entgegenzuwirken. Nicht zuletzt und ganz besonders bestünde ihre Aufgabe darin, zu „begreifen, was uns ergreift“ (um eine Wendung Emil Staigers aufzugreifen). Das Problem: Wir leben in einer Welt, die die Fähigkeit zum Begriff zerstört, und das, „was uns ergreift“, ausschließlich nach subjektiven Kriterien beurteilt.
Little Feat
von Marcus Dick 22. November 2021
Hatte die bleierne COVID-Zeit positive Seiten? Vielleicht erlaubte sie im idealen Fall, den Stand der Dinge zu überdenken und ggf. zu ändern. Welche Gründe auch immer dafür verantwortlich gewesen waren, dass Little Feat, die quintessenzielle US-amerikanische Rock-Band der 70er-Jahre ( Wikipedia , offizielle Webseite ), den Lockdown in erneuerter Besetzung hinter sich lässt: Es ist sehr willkommen und in mehrfacher Hinsicht aufschlussreich. Rockmusik ist eine vergleichsweise junge Kunstform. Nicht wenige derer, die, sagen wir von 1962 bis 1979 , ihren Kurs prägten, sind noch aktiv. Sie sehen sich mit zwei Schwierigkeiten konfrontiert. Die erste Herausforderung: Altern in Würde. Wenn Bands und ihre Anhänger parallel in die Jahre kommen, aber den Glanz und die Herrlichkeit ihrer Sturm-und-Drang-Zeit zu konservieren suchen, droht die Farce. Des Weiteren ist ein Hauptmerkmal von Rockmusik ihre rhythmische Kraft: eine musikalische Muskularität, der gerecht zu werden nur gelingt, solange man, physisch und mental, über genügend Stamina verfügt. Kraft, Ausdauer, Koordinations- und Konzentrationsfähigkeit nehmen mit den Jahren ebenso ab wie Verve, Schneid, Ehrgeiz. I. d. R. verlieren Rock-Bands irgendwann ihren Biss – häufig beschleunigt durch selbstauferlegte Strapazen einer vie de débauche . Die zweite Herausforderung: Bewahrung des einmal Erreichten. (Gar nicht zu reden von der Fähigkeit und dem Willen, das Niveau weiter zu erhöhen.) Späte Meisterwerke – oder auch nur späte große Werke – sind in der Rockmusik selten. Was, wie gesagt, damit zu tun haben könnte, dass man in jungen und jüngeren Jahren enthusiastischer, ambitionierter ist, zudem geneigter, der Schaffenskraft mit Hilfe von Stimulanzien auf die Sprünge zu helfen. Doch es gibt kein Gesetz, das Rock-Bands, die sich im Herbst oder Winter ihrer Karriere befinden, zwingen würde, phlegmatisch zu werden, belanglose oder schlechte Musik zu machen. Es mag zu verlockend erscheinen, sich auf seine Lorbeeren zurückzuziehen. Jedenfalls ist die Fallhöhe zwischen Vergangenheit und Gegenwart umso größer, je exzeptioneller frühere Leistungen ausfielen. Wenig steht für Durchschnittskapellen auf dem Spiel. Desaströs wird es – nachgerade körperlich schmerzhaft für den kritischen Fan –, wenn Bands ihrer Ehrenplätze auf dem musikalischen Olymp verlustig gehen, weil sie der Aufgabe, dem von ihnen selbst gesetzten künstlerischen Standard zu entsprechen, nicht mehr gewachsen sind. Früher oder später sind Rock-Bands sowohl von der Scylla des clichéhaften Keep on rocking! wie von der Charybdis musikalischer Impotenz bedroht. (Oder um die Worte der freilich schon immer Olymp-fernen Puhdys zu zitieren: „Und sind wir auch mal alt wie ein Baum / Wir geben nicht auf den Rock ’n’ Roll-Traum. / Das haben wir uns als Kind schon geschworn. / Wir sind zum Rock ’n’ Roll geborn. // Es ist keine Ente / Wir spielen bis zur Rockerrente.“) Zwischen Watergate und Greensboro war Little Feat DIE US-amerikanische Rock-Band. Keine andere amalgamierte vergleichbar souverän traditionelle Genres – musiktopographisch am imaginären Kreuzungspunkt von Los Angeles, Austin, Memphis, New Orleans, Chicago. Keine Rock-Band fusionierte Rock ’n’ Roll, Blues, Rhythm ’n’ Blues, Country, Jazz, Southern Funk mit mehr Elan als Little Feat zwischen 1973 und 1979. Zu meinen, bereits das 1987 nach neunjähriger Pause mit Craig Fuller als neuem Hauptsänger und zusätzlichem Songwriter wiederbelebte Ensemble sei der von Little Feat-Gründer Lowell George angeführten Band unterlegen gewesen, träfe allerdings nicht zu. Richtig ist: Der Kurs änderte sich ein wenig; man orientierte sich stärker an Song-Konventionen. Die rhythmische Tiefenstaffelung aber hatte ebenso wie die spieltechnische Brillanz, jedenfalls auf den drei Studioalben von 1988 , 1990 und 1991 , eher noch zugenommen. Fatal dann, Fuller (1993 freiwillig ausgeschieden) durch eine Sängerin zu ersetzen. Die Idee als solche war nicht dumm. Georges Melismen sind oft so volatil, dass es auf der Hand lag, einige dieser Gesangsparts einer beweglicheren weiblichen Stimme anzuvertrauen. Auch versprach auf diese Weise der Gesamtklang neue Facetten zu erhalten. Bis dahin hatte man diese Möglichkeit in Gestalt illustrer Hintergrundsängerinnen genutzt ( Bonnie Bramlett , Gloria Jones , Bonnie Raitt , Linda Ronstedt , Emmylou Harris , Rosemary Butler , Nicolette Larson , Valerie Carter , Marilyn Martin , Renée Armand ). Warum man sich für die Besitzerin eines derart outrierten Organs entschied – stilistisch immer an der Grenze zur Parodie –, wird ein ewiges Rätsel bleiben. Als Antidoton gegen die oben skizzierten Gefahren war diese Personalie ungeeignet. Ab 1993 ging alles, vom Songwriting bis zur instrumentalen Ausführung, den Bach runter. Der leider nicht Lethe hieß. Zu diesem Zeitpunkt schon aus dem Olymp verstoßen, gelangte man 2009 mit der Ernennung eines Dilettanten zum Schlagzeuger ohne weitere Umwege in den Orkus. Richard Hayward († 2010) war ja nicht irgendwer . Dass die Band während ihrer Hochzeit durch fulminante Synkopizität und einen inkommensurablen Drive bestechen konnte, verdankte sie zuvörderst ihrem ebenso originellen wie virtuosen Drummer. Bestellt man Böcke zu Gärtnern? Indem sie einen technischen Assistenten Haywards zu dessen Nachfolger machte, tat die Band genau das. Gab es je einen größeren Rock-Bankrott? Was sie zuletzt bot – wieder ohne Sängerin, mit einem kränklichen Paul Barrère und einem noch labileren Schlagzeuger –, war, verglichen mit den musikalischen Heldentaten, die man einst vollbracht hatte, eine Travestie. Menschen lieben happy endings – umso mehr, je seltener sie sich in real life ereignen. Wenige Bands finden, nachdem sie einmal ihr Proprium verloren haben, einen Weg zurück. Dass Little Feat im letzten Moment die sprichwörtliche Kurve bekommt und sich mit zwei neuen Mitgliedern so revitalisiert, dass die Erinnerung an eine gloriose Vergangenheit nicht länger an einer trostlosen Gegenwart zuschanden wird, war nicht voraussehbar. Scott Sharrard ist nicht nur ein flinkerer Gitarrist als P. Barrère, sondern auch der bessere Sänger . Tony Leone ( Wikipedia , offizielle Webseite ) mag – anders als Richie Hayward – kein Schlagzeuger sui generis sein. Seinen Aufgaben wird er allemal gerecht . (Eine Vermutung: Sharrard erklärte sich nur unter der Bedingung bereit, Little Feat zu verstärken, dass man gleichzeitig einen fähigen Drummer engagiert.) Ob geplant ist, frisches Material aufzunehmen, wissen wir nicht. Es spricht für das sanierte Ensemble, dass man sich eine neue Little Feat-Platte vorstellen kann, ohne Schlimmes zu befürchten. Lowell Georges Schatten schwebt immer noch über der Gruppe. Er schwebt über ihr seit ihrer Re-Union 1987. Ihm zu entkommen, gelang mal besser (1988–1993, 2021–?), mal schlechter (1993–2019). Ist es noch möglich, ihn vollständig zu vertreiben? Sicher nicht. Ist es noch möglich, die über 50jährige Band-Karriere in einen versöhnlichen Schlussakkord ausklingen zu lassen? Unbedingt. ⁎ ⁎ ⁎ ⁎ ⁎ ⁎ Nachbemerkung 2024: Man muss sich, was Little Feats legacy angeht, weiter in Geduld fassen. Eine neue Platte ist inzwischen erschienen. Frisches Material? Keine Spur. Angejahrte Blues-Nummern, Coverversionen mithin. Okayig hinmusiziert. Nicht mehr, nicht weniger. Bzw. doch eher weniger. Warum sind betagte Rockmusiker selten fähig und/oder bereit, sich auf alte Tugenden zu besinnen? Das kann nicht nur mit einem Nachlassen körperlicher Leistungsfähigkeit zu tun haben. Vermutlich verdankt es sich einer Mischung aus Bequemlichkeit, Unlust, Desinteresse, Resignation. Wer meint, frühere Leistungen nicht mehr erreichen zu können, versucht’s erst gar nicht.
COVID und Kapitalismus
von Marcus Dick 17. November 2021
Zur Einstimmung ein probates Zitat aus Thomas Pynchons Roman Bleeding Edge (New York 2013, S. 163): „Late capitalism is a pyramid racket on a global scale, the kind of pyramid you do human sacrifices up on top of, meantime getting the suckers to believe it’s all gonna go on forever.“ Warum bagatellisieren oder leugnen so viele Köpfe, die das, was sie als (ihre) Freiheit bezeichnen, höher bewerten als den Schutz ihrer Mitmenschen, die COVID-Pandemie? Der Gründe sind viele: Dummheit, Realitätsverleugnung, Informationsmangel, Unfähigkeit zu vernünftiger Überlegung, selbstzweckhafter Nonkonformismus, Indolenz, Niedertracht, Verhöhnung alles scheinbar Schwachen und Todessehnsucht . Gibt es hier einen Generalnenner? Den gibt es, und er liegt im Verhältnis der Menschen zum Kapitalismus. Die neoliberale Spielart des Kapitalismus hat mit ihrem Wettbewerbs- und Performancewahn derart viele Menschen infiziert, dass es unmöglich geworden ist, gesellschaftliche Ausnahmesituationen, die konzertierte, solidarische Anstrengungen erfordern, unter Kontrolle zu bekommen. Der Neoliberalismus ist der Zauberlehrling, der den Geistern, die er beschwört – Freiheitsapostelei, Eigennutzsucht –, nicht gewachsen ist. Der freiheitliche Unwille, Konzessionen zugunsten des Allgemeinwohls zu machen, das survivalistische Härteprinzip, ist zur zweiten Natur geworden, und nicht mal planetare Desaster können den Selbstregulierungsirrglauben des Spätestkapitalismus erschüttern. Sich von einem Virus in seiner Freiheit betroffen zu wissen, ist dem homo neoliberalis eine einzige Zumutung. Rücksichtnahme heißt ihm Schwäche. Schwäche, das weiß der homo neoliberalis , ist etwas, das er sich nicht erlauben darf. Selbst ein bereits neoliberal zugerichteter Staat, der sich in der Pandemie zögerlich und mehr schlecht als recht anschickt, die schwächeren seiner Bürger noch zu schützen, weckt den Zorn des homo neoliberalis . Nichts dürfe der Freiheit und der Selbstverwirklichung im Wege stehen. Selbst ein bereits neoliberal zugerichteter Staat, der versucht, der Pandemie beizukommen, um schnellstmöglich den status quo ante wiederherzustellen – und dabei für einen Augenblick mit der Freiheit seiner Bürger, sich vom Kapitalismus zum Narren halten zu lassen, kollidiert –, weckt einen Hass, der desto bemerkenswerter ist, als er das unvermeidliche Pendant jenes unbewussten Selbsthasses ist, den der kapitalistisch-neoliberale Zwang, sich in permanente Selbstunternehmer zu verwandeln, auslöst. Mehr noch: Die Haltung der Covidioten, die Seuche nicht ernst und die Krankheit und den Tod von Mitmenschen in Kauf zu nehmen, folgt aus dem unbewussten Selbsthass insofern, als er durch eine Projektion auf diejenigen ausgelagert wird, die sich dem Imperativ, keine Schwäche zu zeigen, temporär nicht unterwerfen. Die unbewusste Projektion des Selbsthasses auf die sog. Coronagläubigen ist verknüpft mit dem Wunsch, sie über die Klinge springen zu lassen. Im Kapitalismus bedeutet Stärke in Wirklichkeit, sich selbst, nämlich menschliche Regungen wie Empathie, Altruismus, Gerechtigkeitsgefühl und Wohlwollen, zugunsten des ökonomischen survival of the fittest aufzugeben. Aus dieser Verdrängung entsteht der Hass auf sich selbst, der im Wunsch, die Schwachen zu opfern, sein Ventil findet. Was der vollständig neoliberal konditionierte Zeitgenosse sich selbst versagt, will er bei denen, die einen Rest von Empathie und Menschlichkeit aufrechterhalten, unter keinen Umständen dulden. Die sog. Coronagläubigen weigern sich angesichts der Pandemie scheinbar, in den Kapital über alles! -Refrain einzustimmen, und bereits das genügt, das Ressentiment der sich entmündigt fühlenden Freiheitsfanatiker zu wecken – deren Mündigkeit und Freiheit ohnehin bloß darin besteht, sich und einander dem Kapital anzubieten und dies für einen Akt der Autonomie zu halten. Wie das enden wird? Kurzfristig: mit noch mehr unnötigen COVID-Opfern (die bei den Freiheitsfetischisten als unvermeidbarer Kollateralschaden zu Buche schlagen werden); mittelfristig: mit gesellschaftlicher und moralischer Zerrüttung (die die Freiheitsfetischisten als gleißenden Sieg des unantastbaren Individuums über einen paternalistischen Staat deuten werden); langfristig: mit dem Umwelt- und Klimakollaps (den die Freiheitsfetischisten auf ein Zuwenig an Freiheit zurückführen werden).
Kulturradio-GAU
von Marcus Dick 10. Oktober 2021
VORBEMERKUNG: Seit ungefähr zehn Jahren ist klar: Das Kulturradio hat keine Zukunft. Inzwischen ist die De-Legitimierung des öffentlich-rechtlichen Qualitätsfunks derart fortgeschritten, dass eine Umkehr nur schwer zu bewerkstelligen wäre. Solange eine Mischung aus latenter/offener Kulturverachtung und Quoten-Paranoia die Gehirne umnebelt, wird das, was ohne Phrase als Kultur bezeichnet werden darf, im sog. Kulturradio , wo es lange Zeit ein Refugium hatte, keine Rolle spielen. Man muss sehr blind sein und sehr taub, um nicht zu sehen und zu hören, dass die Kategorie des Spektakels die des Gehalts ersetzt. Der Kern des Problems ist die kapitalistische Waren-Logik. Sie nötigt nicht nur zu einer pathologisch kurzen Aufmerksamkeitsspanne, sondern ist grundsätzlich unvereinbar mit der Idee, dass es Dinge geben könnte, denen wir, eben weil sie der Waren-Logik sich entziehen, ernstere, ungeteilte Aufmerksamkeit schulden. Ich übertreibe nicht, wenn ich sage, am Radio mindestens so viel gelernt zu haben wie durch den Besuch der Schule. (Anderen ist es vielleicht ähnlich ergangen.) Das mag, zugegeben, ein nostalgischer Grund sein, sich zu beklagen. Wichtiger und entscheidend ist dies: Die Existenz eines Mediums, dessen Daseinsberechtigung NICHT darin bestand, den kleinsten gemeinsamen Nenner zu suchen und durchzusetzen, war ein gesellschaftlicher Fortschritt. Diesen Fortschritt im Zeichen von Durchhörbarkeit und Hörernähe desavouieren heißt der Barbarei des Markt-Imperativs Vorschub leisten. Jeder Sieg des Marktes über das, was seinem totalen Triumph entgegensteht, ist ein Sieg des Bösen. Mein Plan war, den nach der Jahrtausendwende einsetzenden Niedergang des Kulturradios nachzuzeichnen und zu analysieren. Ich verlor rasch die Lust, weil die Entwicklung sich als unumkehrbar herausstellte. Im Folgenden ein Fragment dessen, was eine umfassende Bestandsaufnahme und Abrechnung werden sollte. Es entstand im März 2013. ⁎ ⁎ ⁎ ⁎ ⁎ ⁎ Dem Publikum neue Werte aufzudrängen, die es nicht will, ist die wichtigste und schönste Mission des Verlegers [allgemeiner: des Kulturvermittlers]. Samuel Fischer (1914) Ein Mann, der was zu sagen hat und keine Zuhörer findet, ist schlimm daran. Noch schlimmer sind Zuhörer daran, die keinen finden, der ihnen etwas zu sagen hat. Bertolt Brecht, Der Rundfunk als Kommunikationsapparat (1932) Hoffentlich hören uns nur wenige. Das klingt wie Überheblichkeit. Wir erwarten Zuhörer, zum Zuhören bereite Hörer. Walter Hilpert, 1955–1961 Intendant des NDR, anläßlich des Sendestarts von NDR 3 Am 16. und 17. Juni 2012 kamen auf einer Tagung der Ev. Akademie Tutzing Vertreter des öffentlich-rechtlichen Rundfunks zusammen, um Perspektiven und Potenziale des Kulturradios zu debattieren. Wie man liest , verharrten die Repräsentanten des beitragsfinanzierten Radios in feistem Selbstbehagen. Sie erinnern an Frösche in kaltem Wasser, dessen Temperatur man langsam erhöht. Der kulturpessimistische Stoßseufzer, vieles sei früher besser gewesen, hat, was das sog. Kulturradio angeht, einige Berechtigung. Was im öffentlich-rechtlichen Fernsehen schon längst stattgefunden hat – die vollständige Mimikry an einen idiotischen Zeitgeist –, trifft nun etwas verspätet die öffentlich-rechtlichen Kulturwellen. Worin liegt die Ursache der ubiquitären Abneigung gegen alles irgendwie Außerdurchschnittliche, scheinbar Anspruchsvolle? Nicht zuletzt darin, daß Schaltstellen im politischen und medialen Apparat von Figuren besetzt werden, die ihre persönliche und kulturelle Prägung in einer Zeit erhielten, deren Hauptmerkmal der Verlust intellektueller Substanz war. Wer sich im langen Schatten der 68er-Bewegung als Nemesis der sog. bürgerlichen Hochkultur fühlte, aber nichts dabei fand, durch die bürgerlichen Institutionen zu marschieren, wird, nachdem er oder sie oben angekommen ist, keine oder kaum Skrupel haben, letzte Horte der Hochkultur zu demolieren. Ob vollkommenes Desinteresse dahintersteckt oder nur die Absicht, Kunst und Kultur auf das eigene dürftige Niveau herabzuziehen (das man par ordre du mufti verabsolutiert), spielt keine Rolle. Ob eine desinteressierte Person wie Dagmar Reim unter tätiger Mithilfe eines servilen Chefredakteurs bzw. Programmchefs die Kulturwelle des RBB zugrunde richtet oder eine sub specie artis überforderte Gestalt wie Barbara Mirow als Wellenchefin im Windschatten eines Amok laufenden Hörfunkdirektors den Kulturkanal des NDR in einen Orkus verwandelt : Das Ergebnis ist dasselbe. (In diesem Zusammenhang nur am Rande: Am 29. Juni 2012 beschloß der SWR-Rundfunkrat, einer Vorlage des SWR-Intendanten Peter Boudgoust folgend, die Radio-Orchester aus Baden-Baden/Freiburg und Stuttgart zusammenzulegen. Ein kulturelles Verbrechen erster Klasse, daß im Land der Dichter & Denker, wo man z. B. auf die Sprengung von Buddha-Statuen mit allergrößter Empörung reagiert, keine nennenswerten Proteste auslöst. Werfen wir einen Blick aufs verantwortliche Personal. Boudgoust – für Gerold Hug , dem Programmchef der semidebilen Welle SWR 3 „ein Visionär, der über den Tellerrand des SWR, des Hörfunks und über den Tellerrand des ganzen Programms hinausschaut“ – war und ist Jurist bzw. Verwaltungsmensch. Daß er weder mit den Programmangeboten anderer ARD-Anstalten vertraut ist, noch mit dem Begriff Kulturauftrag etwas anfangen kann, hat er in Interviews und Stellungnahmen bewiesen . Sodann: Bernhard Hermann , SWR-Hörfunkdirektor, von Haus aus Theologe und gleichauf mit Boudgoust, was das Niveau seiner Statements angeht . Schließlich der SWR-Rundfunkrat, ein baden-württembergisches Pandämonium, dessen Zusammensetzung deprimierender nicht sein könnte: 24 Verwaltungfiguren, 18 Juristen, 11 Pädagogen, 8 Theologen, 2 Handwerker, 2 Landwirte, 2 Journalisten, 2 Selbstdarsteller, 2 Kulturschaffende, 1 Steuerberater, 1 Ingenieur, 1 Frauenaktivistin. Die Pointe: Wenn die Presseberichte stimmen, waren in der entscheidenden Sitzung nur 41 der 74 Mitglieder anwesend. Bei 1 Enthaltung sprachen sich 30 Personen für die Annahme der Vorlage aus, 10 dagegen. Der deutlichen Mehrheit ebenjener Kommission, deren Aufgabe darin besteht, über die Einhaltung des öffentlich-rechtlichen Sendeauftrags zu wachen, ging die Zukunft der Orchester, die dem Kulturauftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks aufs schönste gerecht werden, am Arsch vorbei.) Die Büro- und Technokraten in den Funkhäusern und Gremien zerstören das aus freien Stücken, was in der Vergangenheit zu Recht Kulturradio hieß. Auf dem erwähnten Kolloquium verlautbarte Robert Skuppin , Chef von radioeins (RBB), dass „erst durch guten Inhalt und die richtige Präsentation Qualität“ entstehe. Was für eine tiefe Erkenntnis. Und was hat es auf sich mit diesem „guten Inhalt“? Unbestritten ist: Die Kulturprogramme verflachen, veroberflächlichen. Radiomacher und Intendanten leugnen das nicht, meinen jedoch, nur so lasse sich einem Zuhörerschwund entgegenwirken. Um neue und mehr Hörer zu finden, ersetzt man z. B. in E-Musik-Kanälen vollständige Werke durch Musikhäppchen, Repertoire durch immerwiederkehrende Klassikschlager usw. „Wer tagsüber eine ganze Symphonie oder gar eine komplette Oper hören möchte“, so ein ehemaliger NDR-Programmchef, „hat die Möglichkeit, eine CD oder eine Schallplatte aufzulegen.“ ( DIE WELT v. 25. 6. 2004) Solchen Denkvirtuosen erklären, daß die Sache sich umgekehrt verhält: Vergebliche Mühe! Wer einem Wort- oder musikalischen Beitrag länger als 4 bis 5 Minuten nicht folgen kann oder will, hat die Möglichkeit, einen anderen Sender zu wählen. Die fixe Idee, einen angenommenen Durchschnittshörer unter allen Umständen zufriedenzustellen, ist dumm, weil er so, wie die Programmreformler ihn sich vorstellen, nicht existiert . Wie dumm und unnötig das alles ist, zeigt sich darin, daß die Forderung, klassische Musikprogramme populärer zu machen, gar nicht dagegen spricht, vollständige Werke zu spielen. Warum eingängige Sätze aus mehrsätzigen Stücken herausreißen, wenn es unzählige mehrsätzige Werke gibt, die in Gänze das sind, was man als eingängig bezeichnen mag? Und selbst wenn man aus irgendeinem absurden Grund prinzipiell dagegen ist, vollständige Werke zu senden: Da es zahllose Einzelstücke gibt, die dem Kriterium, eingängig zu sein, entsprechen, besteht kein Anlaß, Musik zu filetieren. Zur Dummheit gehört – nicht nur, aber namentlich im politisch-medialen Bereich –, sich die Wirklichkeit nach eigenen Bedürfnissen zurechtzulegen. Ließen die Dummen es doch dabei bewenden, sich einander ihrer dummen Absichten zu versichern. Unseligerweise neigen sie dazu, ihre Ignoranz als Maß aller Dinge zu nehmen, sie ungefragt allen aufzubürden. Wenn es heißt, der sog. anspruchsvollere Hörer möge tagsüber auf seine Plattensammlung zurückgreifen, kann man nur staunen, wie innig hier Dummheit und Amtsdünkel verfilzen. Aber was tun? Sich aufs Abendprogramm freuen? Lieber nicht. Am Abend dieselbe Misere. Wieder keine ganzen Werke, erneut Formatradio im Zeichen des kleinsten gemeinsamen Nenners. Das abendliche Radiokonzert mit großen Werken gehört der Vergangenheit an. (Wenige Ausnahmen bestätigen diese Regel). Also das Nachtprogramm? Wieder Fehlanzeige. Das ARD-Nachtkonzert von 0 bis 6 Uhr war die letzte nicht formatierte Programmstrecke. Tempi passati . Grotesk auch, wie wenig von dem ins gesendete Programm Eingang findet, was der öffentlich-rechtliche Rundfunk als Konzertveranstalter anbietet. Es wäre, was die E-Musik-Kanäle betrifft, das mindeste, den Radiohörern alle Konzerte aller Rundfunkorchester zu präsentieren. Warum werden den Hörern des NDR, des WDR, des HR die Konzerte der süddeutschen und Berliner Rundfunkorchester vorenthalten (und umgekehrt)? Was spricht dagegen, die Konzerte gebührenfinanzierter Rundfunk-Klangkörper deutschlandweit zu senden, anstatt sie nach einmaliger Ausstrahlung in einem Kanal dem Archiv zu übergeben? ⁎ ⁎ ⁎ ⁎ ⁎ ⁎ Nachbemerkung 2021: Soweit das Fragment. Vieles wäre noch zu sagen (gewesen). Etwa zur „richtigen Präsentation“, die zum „Qualitätsfunk“ gehöre. Was die sog. E-Musik betrifft: Leider hatte ich keine Liste z. B. darüber angefertigt, wie häufig der Beginn oder das Ende eines Musikstücks schlicht weggelassen wird. Eine Bruckner-Symphonie ohne den Urnebel -Beginn der Streicher? Straussens Also sprach Zarathustra ohne die ersten drei, vier Takte? Kein Problem! Die Damen und Herren an den Reglern bekommen das regelmäßig hin. Kaum weniger grotesk (und nur ein Exempel): Der SWF bzw. SWR sendet(e) ziemlich oft eine von Michael Gielen geleitete Aufnahme der 3. Symphonie Skrjabins, in der die letzten beiden Takte fehlen. (Meine Nachfrage im Funkhaus, warum man wiederholt und anscheinend absichtlich eine verstümmelte Aufnahme ausstrahle, blieb, natürlich, unbeantwortet.) Zum Haare raufen ist die weit verbreitete Angewohnheit, mit der Musik zu starten, bevor man die Ankündigung beendet hat. Genauso weit verbreitet und noch schlimmer: die Unart, mit der Abkündigung in den Schlussakkord zu platzen. Und warum ist die Klangqualität, terrestrisch und digital, so schlecht? Übertragungsraten von maximal 128 kbit/s, exzessives Soundprocessing, absurde Komprimierung (so dass fortissimo -Stellen sich nicht von piano -Stellen abheben)? Eine zusätzliche Qual: die künstliche Aufgekratztheit, mit der auch Moderatorinnen & Moderatoren der Kulturwellen inzwischen in die Mikrofone plappern. Sie steht in nichts dem Gute-Laune-Terror der Sudel- und Dudelsender nach. Der Siegeszug des WWW hat einige Ärgernissen entschärft. Viele (bei Weitem nicht alle) Konzerte kann man nun zeitflexibel online sehen/hören. Andrerseits bedeutet das Auslagern von Konzerten ins Netz und ins Streaming, dass im regulären Sendebetrieb noch mehr Raum für Kulturschrott und Dilettantismus bleibt. Ein Fazit des ganzen Elends? Vielleicht so: „In jeder Übergangszeit erhebt sich dieses Gesindel, das in jeder Gesellschaft vorhanden ist und nicht nur kein Ziel, sondern nicht einmal eine Spur von einem Gedanken hat und nur seine innere Unruhe und Ungeduld mit aller Kraft zum Ausdruck bringt. Dabei gerät dieses Gesindel, ohne es selbst gewahr zu werden, fast immer unter die Herrschaft jenes kleinen Häufchens leitender Männer [und Frauen], die bei ihrer Tätigkeit ein bestimmtes Ziel verfolgen, und dieses Häufchen lenkt dann jenen ganzen Kehricht, wohin es ihm beliebt.“ (Fëdor Dostoevskij, Besy [ Die Besessenen ], 1872)
Ein Abend in der Oper
von Marcus Dick 29. September 2021
VORBEMERKUNG: Die folgende Epistel notierte ich im Dezember 2012. Hatte ich einen schlechten Abend erwischt? Ich vermute etwas anderes und meine, Zeuge einer Entwicklung gewesen zu sein, die als Sittenverfall zu bezeichnen kulturpessimistisch wirken mag, deswegen aber nicht falsch sein muss. Sagen wir so: Wenn man mich zwänge, übers rein Anekdotische hinaus darzulegen, inwieweit in den letzten zwanzig Jahren Aufmerksamkeitsdefizite aller Art, hohlköpfige Egozentrik, vorsätzliches Banausentum, selbstgefälliger Stolz auf die eigene Bräsigkeit (undsoweiterundsofort) aufs Bedenklichste überhand genommen haben, fiele es mir nicht schwer, einen hinreichenden Nachweis zu führen. Der Triumph eines zügellosen Hurra-Narzissmus – DAS Kennzeichen des spätestkapitalistischen homo insipiens – scheint nahe bevorzustehen. ⁎ ⁎ ⁎ ⁎ ⁎ ⁎ Das Volk, jedermann, hat sich gefälligst zur Kunst hinzubemühen! Arno Schmidt, 1953 Ich gehe selten in die Oper. Was einerseits mit dem Genre zu tun hat, andrerseits mit einem üblichen Mangel an Aufführungsqualität. Der Musiktheaterbetrieb funktioniert so, daß er eine per se heikle Kunstform oft in eine in der Praxis unmögliche Kunstform verwandelt. Hin und wieder jedoch bin ich neugierig. Z. B. auf die neue Inszenierung von Dmitrij Šostakovičs sex and crime -Reißer Lady Macbeth von Mzensk in der Staatsoper Hannover. Was dem Abend in der Oper den Charakter einer soziologischen Exkursion verlieh: die Anwesenheit einer Schar jugendlicher Schnöselinnen und Schnösel, deren Verhalten alles mögliche war, nur nicht das, was man erwarten und verlangen darf. Vielleicht ist die sog. Hochkultur inkl. der ihr eigenen Anforderungen an die Aufnahmebereitschaft und ans Sitzfleisch tatsächlich ein Auslaufmodell? Fakt ist: Ein so schamvergessenes Benehmen hatte ich an Orten hoher Kultur bis dahin noch nicht erlebt. Was im Multiplex-Kino knapp durchgehen mag, sollte in einem Theater- oder Konzertsaal zur Höchststrafe führen: Zuspätkommen (Einlaßpersonal?); lautstarkes Begrüßen der pünktlich erschienenen Cliquen-Mitglieder, die, wie es sich gehört, den Gruß aus voller Kehle erwidern; sofortiges Zücken des Mobiltelephons, um Nachrichten zu lesen und zu senden; Späßchen auf Kosten der Darstellerinnen und Darsteller; Wortwechsel in Plauderlautstärke, gern über zwei, drei Plätze hinweg; häufige Gesten der Langeweile und der Unruhe; vorzeitiges Verlassen der Aufführung. Hatte man aus Hannovers Problemvierteln heraus den Weg ins Theater gefunden? Bezeichnenderweise eben nicht. Es handelte sich um Prototypen dessen, was mit v orsorglicher Speichelleckerei zukünftige Leistungselite genannt wird: geschniegelte und gestriegelte Mustermädchen und -knaben, Zierden jedes Ortsvereins der Jungen Liberalen oder Jungen Union : Produkte eines familiären und gesellschaftlichen Milieus, in dem Lobgesänge auf eine alte oder neue Bürgerlichkeit erklingen und soziale Auslese als notwendig erachtet, sozialer Ausgleich jedoch als Zwang wahrgenommen wird. Was lehrt uns die Begebenheit (abgesehen von der Binse, daß Wohlstand und Wohlanstand nicht automatisch Hand in Hand gehen)? Sie zeigt: DAS Merkmal gesellschaftlicher und kultureller Agonie ist nicht die massenhafte Begeisterung fürs Belanglose, sondern das vorsätzliche Herabwürdigen alles Hohen und Schönen ins Gewöhnliche und Allergewöhnlichste. Gesellschaftliche und kulturelle Agonie zeigt sich nicht dort, wo die sog. Massen tun, was sie schon immer getan haben, nämlich sich im Zeichen des jeweils kleinsten gemeinsamen Nenners auf die Schenkel zu klopfen. Der Anfang vom Ende ist erreicht, wenn ALLES einer geistig-sittlichen Verzwergung zum Opfer fällt, wenn der kleinste gemeinsame Nenner der Maßstab alles Empfindens und Bewertens wird, wenn die Unfähigkeit und/oder der Unwille, sich anrühren zu lassen, zur Schau getragen werden können, ohne auch nur ein Achselzucken hervorzurufen. Das Verhalten jener Mustergestalten des Zeitgeistes zeigt, wie fortgeschritten der Prozeß der gesellschaftlichen Infantilisierung ist (der gesellschaftliche Prozeß fortschreitender Infantilisierung). Infantilität = Selbstbezogenheit. (E inschließlich der Unfähigkeit und/oder der Unlust, Selbsterkenntnis zu erlangen). Diese Selbstbezogenheit ist der Effekt einer Konsum-Ideologie, die ALLES in Waren verwandelt. Der Kauf einer Eintrittskarte verleiht mir dann das Recht, mich auch in der Oper so zu verhalten, wie es mir gerade in den Sinn kommt. Warum einige Zuschauer sich dennoch weiterhin Zurückhaltung auferlegen? Vielleicht erscheint ihnen die Idee, daß auch Kunstdarbietungen nur Waren seien, noch suspekt. Vielleicht möchten sie nicht unangenehm auffallen, solange Theater- bzw. Konzertbesucher existieren, die sich von quasselnden E-Mail-Tippern gestört fühlen. Man wird sehen, wohin uns die via capitalistica , dieser highway to hell , als nächstes führt. ⁎ ⁎ ⁎ ⁎ ⁎ ⁎ Nachbemerkung 2022: Es fällt auf, dass nach COVID verstärkt Forderungen laut werden, sog. traditionelle Veranstaltungsformen zugunsten offener(er)/inklusiver(er) Konzepte dranzugeben. (Zwei Beispiele: Der Kulturmanager Folkert Uhde fordert einen New Deal für den Klassikbetrieb . // Die Klassik ist tot, es lebe die Klassik .) Das bestätigt, was ich 2012 skizziert hatte. Jeder Versuch, populär ( er ) zu sein, Hörer/innen dort abzuholen , wo die in ihrer Ignoranz und Indolenz sich einrichten, läuft darauf hinaus, den kleinsten gemeinsamen Nenner als ultima ratio zu akzeptieren: es solchen Gestalten, wie ich sie oben beschreibe, recht zu machen. Das ist kontraproduktiv. Selbstbeherrschung und Selbstkontrolle, das Bedürfnis und die Fähigkeit, sich freiwillig, geduldig, ernsthaft auf die großen und größten Hervorbringungen des menschlichen Geistes zu konzentrieren, ist ein Zeichen innerer und äußerer Reife. Wer keine zwei Stunden ohne Getränke, Schnittchen, Rumgequatsche aushält, soll gefälligst, anstatt Orte hoher, höchster, allerhöchster Kunst heimzusuchen, fernbleiben. Oder um erneut Arno Schmidt zu zitieren: Das Volk, jedermann, hat sich gefälligst zur Kunst hinzubemühen! Nachbemerkung 2024: Was mir 2012 wahrscheinlich dünkte und sich nach der Pandemie zu einem mehr als nur anekdotischen Befund verdichtete, ist inzwischen mancherorts, als Kriterium inklusiver Events , ausdrücklich erwünscht: dass Kultur-Kunden sich so gebaren mögen, wie es ihnen in den Sinn kommt und beliebt. Eine Entwicklung, die dem Umstand geschuldet ist, dass etliche der derzeit tätigen Kulturmanager/innen bereits selbst Produkte einer Konsummentalität sind, die man nach außen als inklusiv verkaufen kann, in Wirklichkeit aber allein die eigenen infantilen Befindlichkeiten gelten lässt. Ein besonders haarsträubendes Beispiel findet man in Birmingham. Seit 2023 amtiert beim dortigen, durchaus renommierten, Orchester eine CEO , die, fachfremd, nicht nur nichts von der Musik versteht , zu deren Verbreitung sie beitragen soll, sondern u. a. dekretiert hat, dass fortan Besucher/innen Getränke in den Saal mitnehmen und während der Aufführung Fotos und Videos machen dürfen (verbunden mit der Bitte, sie anschließend in den sozialen Netzwerken zu posten). Wie man hört, wird die Möglichkeit, Kunstgenuss durch das Schlürfen von Getränken zu steigern, nicht zuletzt von der CEO herself gern in Anspruch genommen... („ I sat close to Emma Stenning at a concert in May. She took in a drink for during the performance, which was distracting to those sitting nearby and also disrespectful to the orchestra, who played brilliantly. She also appeared to be fidgeting through most of the concert: it genuinely seemed to us that she did not want to be there.“ // „ I once paid extra to sit on the balcony , but ended up behind [Emma Stenning], and watching her fidgeting and drinking her way through incredible music.“) – Das Birminghamer Debakel ist ein weiterer Beleg für jenen bevorstehenden Totaltriumph eines dummdreisten Hurra-Narzissmus, auf den ich oben anspielte. (Zur Sicherheit sei angemerkt: Inklusivität , verstanden als Anspruch, für alle da zu sein, die auch wirklich da sein wollen, ist eine dufte Sache; sie sollte sich von selbst verstehen. Umso schlimmer, dass Inklusivität in Wirklichkeit oft bedeutet, das alles als irgendwie anstrengend Empfundene einem dumbing down unterzogen wird.)
Share by: