von Marcus Dick
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10. Oktober 2021
VORBEMERKUNG: Seit ungefähr zehn Jahren ist klar: Das Kulturradio hat keine Zukunft. Inzwischen ist die De-Legitimierung des öffentlich-rechtlichen Qualitätsfunks derart fortgeschritten, dass eine Umkehr nur schwer zu bewerkstelligen wäre. Solange eine Mischung aus latenter/offener Kulturverachtung und Quoten-Paranoia die Gehirne umnebelt, wird das, was ohne Phrase als Kultur bezeichnet werden darf, im sog. Kulturradio , wo es lange Zeit ein Refugium hatte, keine Rolle spielen. Man muss sehr blind sein und sehr taub, um nicht zu sehen und zu hören, dass die Kategorie des Spektakels die des Gehalts ersetzt. Der Kern des Problems ist die kapitalistische Waren-Logik. Sie nötigt nicht nur zu einer pathologisch kurzen Aufmerksamkeitsspanne, sondern ist grundsätzlich unvereinbar mit der Idee, dass es Dinge geben könnte, denen wir, eben weil sie der Waren-Logik sich entziehen, ernstere, ungeteilte Aufmerksamkeit schulden. Ich übertreibe nicht, wenn ich sage, am Radio mindestens so viel gelernt zu haben wie durch den Besuch der Schule. (Anderen ist es vielleicht ähnlich ergangen.) Das mag, zugegeben, ein nostalgischer Grund sein, sich zu beklagen. Wichtiger und entscheidend ist dies: Die Existenz eines Mediums, dessen Daseinsberechtigung NICHT darin bestand, den kleinsten gemeinsamen Nenner zu suchen und durchzusetzen, war ein gesellschaftlicher Fortschritt. Diesen Fortschritt im Zeichen von Durchhörbarkeit und Hörernähe desavouieren heißt der Barbarei des Markt-Imperativs Vorschub leisten. Jeder Sieg des Marktes über das, was seinem totalen Triumph entgegensteht, ist ein Sieg des Bösen. Mein Plan war, den nach der Jahrtausendwende einsetzenden Niedergang des Kulturradios nachzuzeichnen und zu analysieren. Ich verlor rasch die Lust, weil die Entwicklung sich als unumkehrbar herausstellte. Im Folgenden ein Fragment dessen, was eine umfassende Bestandsaufnahme und Abrechnung werden sollte. Es entstand im März 2013. ⁎ ⁎ ⁎ ⁎ ⁎ ⁎ Dem Publikum neue Werte aufzudrängen, die es nicht will, ist die wichtigste und schönste Mission des Verlegers [allgemeiner: des Kulturvermittlers]. Samuel Fischer (1914) Ein Mann, der was zu sagen hat und keine Zuhörer findet, ist schlimm daran. Noch schlimmer sind Zuhörer daran, die keinen finden, der ihnen etwas zu sagen hat. Bertolt Brecht, Der Rundfunk als Kommunikationsapparat (1932) Hoffentlich hören uns nur wenige. Das klingt wie Überheblichkeit. Wir erwarten Zuhörer, zum Zuhören bereite Hörer. Walter Hilpert, 1955–1961 Intendant des NDR, anläßlich des Sendestarts von NDR 3 Am 16. und 17. Juni 2012 kamen auf einer Tagung der Ev. Akademie Tutzing Vertreter des öffentlich-rechtlichen Rundfunks zusammen, um Perspektiven und Potenziale des Kulturradios zu debattieren. Wie man liest , verharrten die Repräsentanten des beitragsfinanzierten Radios in feistem Selbstbehagen. Sie erinnern an Frösche in kaltem Wasser, dessen Temperatur man langsam erhöht. Der kulturpessimistische Stoßseufzer, vieles sei früher besser gewesen, hat, was das sog. Kulturradio angeht, einige Berechtigung. Was im öffentlich-rechtlichen Fernsehen schon längst stattgefunden hat – die vollständige Mimikry an einen idiotischen Zeitgeist –, trifft nun etwas verspätet die öffentlich-rechtlichen Kulturwellen. Worin liegt die Ursache der ubiquitären Abneigung gegen alles irgendwie Außerdurchschnittliche, scheinbar Anspruchsvolle? Nicht zuletzt darin, daß Schaltstellen im politischen und medialen Apparat von Figuren besetzt werden, die ihre persönliche und kulturelle Prägung in einer Zeit erhielten, deren Hauptmerkmal der Verlust intellektueller Substanz war. Wer sich im langen Schatten der 68er-Bewegung als Nemesis der sog. bürgerlichen Hochkultur fühlte, aber nichts dabei fand, durch die bürgerlichen Institutionen zu marschieren, wird, nachdem er oder sie oben angekommen ist, keine oder kaum Skrupel haben, letzte Horte der Hochkultur zu demolieren. Ob vollkommenes Desinteresse dahintersteckt oder nur die Absicht, Kunst und Kultur auf das eigene dürftige Niveau herabzuziehen (das man par ordre du mufti verabsolutiert), spielt keine Rolle. Ob eine desinteressierte Person wie Dagmar Reim unter tätiger Mithilfe eines servilen Chefredakteurs bzw. Programmchefs die Kulturwelle des RBB zugrunde richtet oder eine sub specie artis überforderte Gestalt wie Barbara Mirow als Wellenchefin im Windschatten eines Amok laufenden Hörfunkdirektors den Kulturkanal des NDR in einen Orkus verwandelt : Das Ergebnis ist dasselbe. (In diesem Zusammenhang nur am Rande: Am 29. Juni 2012 beschloß der SWR-Rundfunkrat, einer Vorlage des SWR-Intendanten Peter Boudgoust folgend, die Radio-Orchester aus Baden-Baden/Freiburg und Stuttgart zusammenzulegen. Ein kulturelles Verbrechen erster Klasse, daß im Land der Dichter & Denker, wo man z. B. auf die Sprengung von Buddha-Statuen mit allergrößter Empörung reagiert, keine nennenswerten Proteste auslöst. Werfen wir einen Blick aufs verantwortliche Personal. Boudgoust – für Gerold Hug , dem Programmchef der semidebilen Welle SWR 3 „ein Visionär, der über den Tellerrand des SWR, des Hörfunks und über den Tellerrand des ganzen Programms hinausschaut“ – war und ist Jurist bzw. Verwaltungsmensch. Daß er weder mit den Programmangeboten anderer ARD-Anstalten vertraut ist, noch mit dem Begriff Kulturauftrag etwas anfangen kann, hat er in Interviews und Stellungnahmen bewiesen . Sodann: Bernhard Hermann , SWR-Hörfunkdirektor, von Haus aus Theologe und gleichauf mit Boudgoust, was das Niveau seiner Statements angeht . Schließlich der SWR-Rundfunkrat, ein baden-württembergisches Pandämonium, dessen Zusammensetzung deprimierender nicht sein könnte: 24 Verwaltungfiguren, 18 Juristen, 11 Pädagogen, 8 Theologen, 2 Handwerker, 2 Landwirte, 2 Journalisten, 2 Selbstdarsteller, 2 Kulturschaffende, 1 Steuerberater, 1 Ingenieur, 1 Frauenaktivistin. Die Pointe: Wenn die Presseberichte stimmen, waren in der entscheidenden Sitzung nur 41 der 74 Mitglieder anwesend. Bei 1 Enthaltung sprachen sich 30 Personen für die Annahme der Vorlage aus, 10 dagegen. Der deutlichen Mehrheit ebenjener Kommission, deren Aufgabe darin besteht, über die Einhaltung des öffentlich-rechtlichen Sendeauftrags zu wachen, ging die Zukunft der Orchester, die dem Kulturauftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks aufs schönste gerecht werden, am Arsch vorbei.) Die Büro- und Technokraten in den Funkhäusern und Gremien zerstören das aus freien Stücken, was in der Vergangenheit zu Recht Kulturradio hieß. Auf dem erwähnten Kolloquium verlautbarte Robert Skuppin , Chef von radioeins (RBB), dass „erst durch guten Inhalt und die richtige Präsentation Qualität“ entstehe. Was für eine tiefe Erkenntnis. Und was hat es auf sich mit diesem „guten Inhalt“? Unbestritten ist: Die Kulturprogramme verflachen, veroberflächlichen. Radiomacher und Intendanten leugnen das nicht, meinen jedoch, nur so lasse sich einem Zuhörerschwund entgegenwirken. Um neue und mehr Hörer zu finden, ersetzt man z. B. in E-Musik-Kanälen vollständige Werke durch Musikhäppchen, Repertoire durch immerwiederkehrende Klassikschlager usw. „Wer tagsüber eine ganze Symphonie oder gar eine komplette Oper hören möchte“, so ein ehemaliger NDR-Programmchef, „hat die Möglichkeit, eine CD oder eine Schallplatte aufzulegen.“ ( DIE WELT v. 25. 6. 2004) Solchen Denkvirtuosen erklären, daß die Sache sich umgekehrt verhält: Vergebliche Mühe! Wer einem Wort- oder musikalischen Beitrag länger als 4 bis 5 Minuten nicht folgen kann oder will, hat die Möglichkeit, einen anderen Sender zu wählen. Die fixe Idee, einen angenommenen Durchschnittshörer unter allen Umständen zufriedenzustellen, ist dumm, weil er so, wie die Programmreformler ihn sich vorstellen, nicht existiert . Wie dumm und unnötig das alles ist, zeigt sich darin, daß die Forderung, klassische Musikprogramme populärer zu machen, gar nicht dagegen spricht, vollständige Werke zu spielen. Warum eingängige Sätze aus mehrsätzigen Stücken herausreißen, wenn es unzählige mehrsätzige Werke gibt, die in Gänze das sind, was man als eingängig bezeichnen mag? Und selbst wenn man aus irgendeinem absurden Grund prinzipiell dagegen ist, vollständige Werke zu senden: Da es zahllose Einzelstücke gibt, die dem Kriterium, eingängig zu sein, entsprechen, besteht kein Anlaß, Musik zu filetieren. Zur Dummheit gehört – nicht nur, aber namentlich im politisch-medialen Bereich –, sich die Wirklichkeit nach eigenen Bedürfnissen zurechtzulegen. Ließen die Dummen es doch dabei bewenden, sich einander ihrer dummen Absichten zu versichern. Unseligerweise neigen sie dazu, ihre Ignoranz als Maß aller Dinge zu nehmen, sie ungefragt allen aufzubürden. Wenn es heißt, der sog. anspruchsvollere Hörer möge tagsüber auf seine Plattensammlung zurückgreifen, kann man nur staunen, wie innig hier Dummheit und Amtsdünkel verfilzen. Aber was tun? Sich aufs Abendprogramm freuen? Lieber nicht. Am Abend dieselbe Misere. Wieder keine ganzen Werke, erneut Formatradio im Zeichen des kleinsten gemeinsamen Nenners. Das abendliche Radiokonzert mit großen Werken gehört der Vergangenheit an. (Wenige Ausnahmen bestätigen diese Regel). Also das Nachtprogramm? Wieder Fehlanzeige. Das ARD-Nachtkonzert von 0 bis 6 Uhr war die letzte nicht formatierte Programmstrecke. Tempi passati . Grotesk auch, wie wenig von dem ins gesendete Programm Eingang findet, was der öffentlich-rechtliche Rundfunk als Konzertveranstalter anbietet. Es wäre, was die E-Musik-Kanäle betrifft, das mindeste, den Radiohörern alle Konzerte aller Rundfunkorchester zu präsentieren. Warum werden den Hörern des NDR, des WDR, des HR die Konzerte der süddeutschen und Berliner Rundfunkorchester vorenthalten (und umgekehrt)? Was spricht dagegen, die Konzerte gebührenfinanzierter Rundfunk-Klangkörper deutschlandweit zu senden, anstatt sie nach einmaliger Ausstrahlung in einem Kanal dem Archiv zu übergeben? ⁎ ⁎ ⁎ ⁎ ⁎ ⁎ Nachbemerkung 2021: Soweit das Fragment. Vieles wäre noch zu sagen (gewesen). Etwa zur „richtigen Präsentation“, die zum „Qualitätsfunk“ gehöre. Was die sog. E-Musik betrifft: Leider hatte ich keine Liste z. B. darüber angefertigt, wie häufig der Beginn oder das Ende eines Musikstücks schlicht weggelassen wird. Eine Bruckner-Symphonie ohne den Urnebel -Beginn der Streicher? Straussens Also sprach Zarathustra ohne die ersten drei, vier Takte? Kein Problem! Die Damen und Herren an den Reglern bekommen das regelmäßig hin. Kaum weniger grotesk (und nur ein Exempel): Der SWF bzw. SWR sendet(e) ziemlich oft eine von Michael Gielen geleitete Aufnahme der 3. Symphonie Skrjabins, in der die letzten beiden Takte fehlen. (Meine Nachfrage im Funkhaus, warum man wiederholt und anscheinend absichtlich eine verstümmelte Aufnahme ausstrahle, blieb, natürlich, unbeantwortet.) Zum Haare raufen ist die weit verbreitete Angewohnheit, mit der Musik zu starten, bevor man die Ankündigung beendet hat. Genauso weit verbreitet und noch schlimmer: die Unart, mit der Abkündigung in den Schlussakkord zu platzen. Und warum ist die Klangqualität, terrestrisch und digital, so schlecht? Übertragungsraten von maximal 128 kbit/s, exzessives Soundprocessing, absurde Komprimierung (so dass fortissimo -Stellen sich nicht von piano -Stellen abheben)? Eine zusätzliche Qual: die künstliche Aufgekratztheit, mit der auch Moderatorinnen & Moderatoren der Kulturwellen inzwischen in die Mikrofone plappern. Sie steht in nichts dem Gute-Laune-Terror der Sudel- und Dudelsender nach. Der Siegeszug des WWW hat einige Ärgernissen entschärft. Viele (bei Weitem nicht alle) Konzerte kann man nun zeitflexibel online sehen/hören. Andrerseits bedeutet das Auslagern von Konzerten ins Netz und ins Streaming, dass im regulären Sendebetrieb noch mehr Raum für Kulturschrott und Dilettantismus bleibt. Ein Fazit des ganzen Elends? Vielleicht so: „In jeder Übergangszeit erhebt sich dieses Gesindel, das in jeder Gesellschaft vorhanden ist und nicht nur kein Ziel, sondern nicht einmal eine Spur von einem Gedanken hat und nur seine innere Unruhe und Ungeduld mit aller Kraft zum Ausdruck bringt. Dabei gerät dieses Gesindel, ohne es selbst gewahr zu werden, fast immer unter die Herrschaft jenes kleinen Häufchens leitender Männer [und Frauen], die bei ihrer Tätigkeit ein bestimmtes Ziel verfolgen, und dieses Häufchen lenkt dann jenen ganzen Kehricht, wohin es ihm beliebt.“ (Fëdor Dostoevskij, Besy [ Die Besessenen ], 1872)