Blanchot

Maurice Blanchots Desaster


Anmerkungen zu Maurice Blanchots écriture du désastre (2006)


Accepter le vide, le rien, le blanc. Tout ce que nous créons est derrière nous. / Je suis aujourd’hui dans ce blanc, sans paroles, sans gestes, sans mots. / Ce qui est encore à accomplir, n’est jamais que ce qui se donne volontiers pour accompli : le désert où notre impuissance nous refoule.

Edmond Jabès, Le Petit Livre de la subversion hors de soupçon (1982)


Solitude qui rayonne, vide du ciel, mort différée : désastre.

M. Blanchot, L’Écriture du désastre (1980)


In seinem philosophisch-theoretischen Hauptwerk L’Écriture du désastre (Die Schrift des Desasters, 1980) unterscheidet Maurice Blanchot zwischen pouvoir und Macht (im Original deutsch). Pouvoir verwendet er in der herkömmlichen, d. h. gesellschaftspolitischen, juristischen, psycho-sozialen Bedeutung. Pouvoir meint sowohl die Fähigkeit als auch die Möglichkeit, als Anführer, Oberhaupt usw. ein Kollektiv zu leiten, zu beherrschen, zu manipulieren. Macht hingegen fungiert als philosophischer Begriff – der natürlich auf Friedrich Nietzsche verweist. Macht sei die Manifestation eines Willens zur Macht, die Möglichkeit, aus sich selbst heraus neue Wirklichkeiten, neuen Sinn, neue Bedeutungen zu erschaffen. Die Fähigkeit, zuvor Unmögliches zu ermöglichen. Diese Macht (und nicht etwa das Gute) sei aller Handlungen Ziel. Man könne Macht als eine Maschine verstehen, die die Impulse des Willens zur Macht transformiere, aus ihnen etwas Reales werden lasse. Blanchot schreibt: „Macht, c’est le moyen, la machine, le fonctionnement du possible.“ („Macht, das ist das Mittel, die Maschine, das Funktionieren des Möglichen.“) Macht verwandle Mögliches in Wirkliches. Sinn und Bedeutung seien Produkte dieser Macht insofern, als Sinn und Bedeutung nur das haben könne, was wirklich sei. Wirklich sei das, was wirke. Sinn und Bedeutung seien Wirkungen dieser Macht, die Wirklichkeit ermögliche. Macht ermögliche als Möglichkeit Wirklichkeit und also Sinn und Bedeutung.


Seit den 1960er Jahren war es namentlich Gilles Deleuze darum zu tun, Nietzsches Denken wiederzubeleben bzw. von außerphilosophischen Altlasten zu befreien. Im 1972 erschienenen Anti-Œdipe (Anti-Ödipus) läßt er es sich gemeinsam mit Félix Guattari angelegen sein, die subjektive wie die gesellschaftliche Wirklichkeit als Produkt einer ursprünglichen Kraft zu veranschaulichen, die sie désir nennen: Wunsch, Begehren. Dieser im Unbewußten bzw. als Unbewußtes wirkende Wunsch sorgt wie der Wille zur Macht dafür, daß der Mensch unablässig etwas hervorbringt und ausprobiert, in Aktion ist, Verbindungen und Zusammenhänge herstellt, kurz: Wirklichkeit hervorbringt. Der Wunsch produziert Wirklichkeiten und Möglichkeiten, er ist eine Wunsch-Maschine (machine désirante). Der Wunsch strömt und fließt unaufhörlich und ohne innere Struktur. Wie Blanchots Macht ist der Wunsch bzw. das Begehren energeia: Energie, die Wirklichkeit produziert. Die Wunsch-Machine ist eine Wirklichkeitsmaschine. (Und nicht umgekehrt. Anzunehmen, daß Wirklichkeit den Wunsch/das Begehren hervorbringt, hieße Ursache und Wirkung verwechseln.) Wo und wann immer dieser Wunsch-Strom auf einen Widerstand trifft, bilden sich Strukturen. Oder anders: Die Funktion der Wunsch-Maschine besteht darin, sich mit anderen Wunsch-Maschinen zusammenzuschließen. Wunsch-Maschinen entstehen, wenn ein Wunsch-Strom sich mit einem anderen Wunsch-Strom verbindet. Wunsch-Maschinen bewirken, daß zwei oder mehr Wunsch-Ströme sich verbinden und mit- und/oder gegeneinander produktiv werden, also Wirklichkeit(en) erschaffen. Wunsch-Maschinen transformieren/verwandeln die Impulse der Wunsch-Ströme, um, wie Blanchots Macht, Wirklichkeit zu ermöglichen.


Die Wirkung oder eben die Macht dieser Wunsch-Maschinen zeigt sich auf allen Wirklichkeitsebenen: physisch, intellektuell, affektiv, gesellschaftlich, ökonomisch, ästhetisch usw. Überall Wirklichkeits-Maschinen, die etwas mit etwas anderem in ein Verhältnis, in eine Beziehung setzen. Z. B. wird beim Stillen der Mund eines Babys an der Brust seiner Mutter zu einer Mund-Maschine, die angeschlossen ist an eine Brust-Maschine. (Und umgekehrt.) Z. B. arbeiten auch Körperzellen maschinell insofern, als sie Ströme produzieren, die von einer Zelle zur anderen fließen und wieder abgeschnitten werden. Dasselbe gilt auf der Ebene der sozialen Interaktion. Kommunikation ist maschinell insofern, als sie kognitive und/oder affektive Ströme zusammenfügt und trennt.


Entscheidend dabei: Der Wunsch/das Begehren will nichts weiter, als zu funktionieren, als wirklich zu werden. Natürlich intervenieren Instanzen, die diesem Impuls ihren Widerstand entgegensetzen. Für Deleuze und Guattari ist etwa auch Freuds Theorie des Ödipus-Konfliktes ein Versuch, die buchstäblich anarchische, also herrschaftslose Produktion des Unbewußten in eine bestimmte Form zu zwängen, die, in Gestalt der Kleinfamilie, nur die Herrschaft der bürgerlichen Ordnung zementiere. Deleuze und Guattari fordern dazu auf, den inhärent revolutionären Bewegungen des Wunsches zu folgen. Als Vorbild gilt ihnen das schizophrene Denken bzw. der sogenannte Schizo (le schizo). Deleuze und Guattari meinen damit nicht die klinische Schizophrenie (was auch frivol wäre), sondern, in einem philosophischen Sinn, die sich selbst bejahende Produktivität der von äußeren Zwängen freien Wunsch-Maschinerie. Der Wunsch ermöglicht Unmögliches, indem er Noch-nicht-Wirkliches Wirklichkeit werden läßt.

 

Freilich: Für Blanchot ist es sinnlos, dem (nur) sich selbst bejahenden Wunsch/Begehren zu folgen (folgen zu wollen). Im Gegensatz zu Deleuze und Guattari, die emphatisch behaupten, der Wunsch-Maschinerie sei es ein Leichtes, das Mögliche funktionieren zu lassen, fügt Blanchot ein entscheidendes vergeblich ein: „La machine délirante et désirante essaie en vain de faire fonctionner le non-fonctionnement.“ („Die delirierende und begehrende Maschine versucht vergeblich, das Nicht-Funktonieren funktionieren zu lassen.“) Die Macht, Wirklichkeit zu erschaffen, sagt Blachot, sei in letzter Instanz zum Scheitern verurteilt. Blanchot ist kein Denker der Macht, sondern der Nicht-Macht. Ihm erscheint die Macht als fragwürdig, als problematisch, eben weil sie unausgesetzt Wirklichkeit zu erschaffen suche. Wie Franz Kafka, Fernando Pessoa oder Samuel Beckett ist Blanchot Exponent einer Art von aktiver Passivität, für die, Pessoa zu zitieren, „alles so vergeblich ist wie ein Herumstochern in Asche und so vage wie der Augenblick, bevor der Morgen graut“. Der Nicht-Macht folgen heiße sich mit der Vergänglichkeit allen Lebens abfinden und die Sinn-Losigkeit der Welt anerkennen. Das Desaster (désastre) ist Blanchots Chiffre für diese kosmische Kontingenz, die unsere Existenz immer schon durchkreuzt haben werde. Die Nicht-Macht sei ein Zeichen dieses existenziellen Desasters. Die Arbeit des Willens zur Macht und der Wunsch-Maschinerie hinterlasse gleichsam eine Furche, eine Kielspur, in der und durch die Sinn und Bedeutung entstehe. Die Nicht-Macht jedoch „est toujours déjà sorti du sillon, du sillage, appartenant au dehors“: Sie „hat diese Furche, die Kielspur [des Sinns] immer schon verlassen, sie gehört zum Draußen“: in den Einflußbereich des Desasters.


Blanchots Verweis auf eine Furche oder Kielspur des Sinns bringt Jacques Derridas meta- oder ultra-ontologische bzw. meta- oder ultra-semiotische différance ins Spiel. Auf der semiotischen Ebene läßt sich die différance als eine textuelle Bewegung beschreiben, die dadurch Sinn und Bedeutung hervorbringt, weil es innerhalb eines Textes (d. h. innerhalb einer Struktur von Zeichen) kein Element gibt, das isoliert existiert. Jedes Zeichen verweist auf etwas, das selbst nicht präsent ist. Diese Bewegung des Verweisens innerhalb einer räumlichen und zeitlichen Verkettung von Elementen (Zeichen) ergibt eine Spur (trace), die sich nur sekundär manifestiert: als Sinn bzw. Bedeutung. Bei Blanchot heißt diese Spur, die Derrida auch Ur-Spur oder Ur-Schrift nennt, Furche (sillon) oder Kielspur (sillage). Da jedoch das Desaster der Entstehung von Sinn zuwiderlaufe und ihn außer Kraft setze (Sinn zersetze), habe es diese Spur „immer schon verlassen“. Das Desaster werde sich immer schon jenseits dessen ereignet haben, was die Spur eröffnet.


Hinzu komme das Problem, die reale Gefahr, daß Macht als pouvoir Gestalt annehme. Der Wille zur Macht und die Wunsch-Maschinerie könnten auf gewöhnliche Herrschaft hinauslaufen. Genaugenommen sei das die Regel. Blanchot gibt zu bedenken, daß nur die unheimliche Präsenz des Desasters, die als Schatten auf unserer Existenz liege, den Umschlag von Macht in pouvoir verhindere. Erst indem Macht als pouvoir von der lähmenden Drohung des Desasters in Schach gehalten und zu Nicht-Macht werde, verliere Machthabe/Herrschaft ihre Aura: „Seul le désastre tient à distance la maîtrise.“ („Allein das Desaster hält die Herrschaft auf Distanz.“) Erst wenn der Schatten des Desasters auf das Denken falle, wenn das Denken an diese absolute Grenzen stoße, führe der Wunsch nach Herrschaft sich selbst ad absurdum.


Weil Sinn und Bedeutung, so Blanchot, durch das Desaster immer schon entwertet seien, könne man über Sinn und Bedeutung nur dann Macht erlangen, wenn man sich darüber im klaren sei, daß sie sich jeder Besitzergreifung entziehen. Eine bestimmte Art von (negativer) Macht besäße ich nur, wenn ich verstände, niemals Macht haben zu können. Dieses Wissen eines Nicht-Wissens (bzw.: diese Macht über die eigene Machtlosigkeit) bezeichnet Blanchot als Passivität oder Nicht-Macht, und er fügt hinzu, daß diese Passivität/Nicht-Macht Wiederholung impliziere: „La répétition comme non-pouvoir.“ Was sagen will, daß ab dem Augenblick, an dem man verstanden habe, nie einen transzendentalen Sinn/eine transzendentale Bedeutung fixieren zu können, nur bleibe, immer wieder eine bestimmte Erfahrung zu wiederholen: die Erfahrung des Desasters. Das Desaster führe das Denken an einen wirklichen Endpunkt, es entmachte das Denken, das so zu einer Nicht-Macht werde. Dem entmachteten Denken bleibe nur die Möglichkeit, die Erfahrung des Entmachtet-Werdens unausgesetzt zu wiederholen. Das ist, was Blanchot beschreibt, oder eher um-schreibt, was er in seinen und durch seine Texte/n zum Ausdruck zu bringen sucht. Er folgt, schreibend, der Schrift des Desasters.



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