Blog-Layout

Ein Abend in der Oper


VORBEMERKUNG: Die folgende Epistel notierte ich im Dezember 2012. Hatte ich einen schlechten Abend erwischt? Ich vermute etwas anderes und meine, Zeuge einer Entwicklung gewesen zu sein, die als Sittenverfall zu bezeichnen kulturpessimistisch wirken mag, deswegen aber nicht falsch sein muss. Sagen wir so: Wenn man mich zwänge, übers rein Anekdotische hinaus darzulegen, inwieweit in den letzten zwanzig Jahren Aufmerksamkeitsdefizite aller Art, hohlköpfige Egozentrik, vorsätzliches Banausentum, selbstgefälliger Stolz auf die eigene Bräsigkeit (undsoweiterundsofort) aufs Bedenklichste überhand genommen haben, fiele es mir nicht schwer, einen hinreichenden Nachweis zu führen. Der Triumph eines zügellosen Hurra-Narzissmus – DAS Kennzeichen des spätestkapitalistischen homo insipiens – scheint nahe bevorzustehen.


⁎ ⁎ ⁎ ⁎ ⁎ ⁎


Das Volk, jedermann, hat sich gefälligst zur Kunst hinzubemühen!

Arno Schmidt, 1953


Ich gehe selten in die Oper. Was einerseits mit dem Genre zu tun hat, andrerseits mit einem üblichen Mangel an Aufführungsqualität. Der Musiktheaterbetrieb funktioniert so, daß er eine per se heikle Kunstform oft in eine in der Praxis unmögliche Kunstform verwandelt. Hin und wieder jedoch bin ich neugierig. Z. B. auf die neue Inszenierung von Dmitrij Šostakovičs sex and crime-Reißer Lady Macbeth von Mzensk in der Staatsoper Hannover. Was dem Abend in der Oper den Charakter einer soziologischen Exkursion verlieh: die Anwesenheit einer Schar jugendlicher Schnöselinnen und Schnösel, deren Verhalten alles mögliche war, nur nicht das, was man erwarten und verlangen darf.


Vielleicht ist die sog. Hochkultur inkl. der ihr eigenen Anforderungen an die Aufnahmebereitschaft und ans Sitzfleisch tatsächlich ein Auslaufmodell? Fakt ist: Ein so schamvergessenes Benehmen hatte ich an Orten hoher Kultur bis dahin noch nicht erlebt. Was im Multiplex-Kino knapp durchgehen mag, sollte in einem Theater- oder Konzertsaal zur Höchststrafe führen: Zuspätkommen (Einlaßpersonal?); lautstarkes Begrüßen der pünktlich erschienenen Cliquen-Mitglieder, die, wie es sich gehört, den Gruß aus voller Kehle erwidern; sofortiges Zücken des Mobiltelephons, um Nachrichten zu lesen und zu senden; Späßchen auf Kosten der Darstellerinnen und Darsteller; Wortwechsel in Plauderlautstärke, gern über zwei, drei Plätze hinweg; häufige Gesten der Langeweile und der Unruhe; vorzeitiges Verlassen der Aufführung.


Hatte man aus Hannovers Problemvierteln heraus den Weg ins Theater gefunden? Bezeichnenderweise eben nicht. Es handelte sich um Prototypen dessen, was mit vorsorglicher Speichelleckerei zukünftige Leistungselite genannt wird: geschniegelte und gestriegelte Mustermädchen und -knaben, Zierden jedes Ortsvereins der Jungen Liberalen oder Jungen Union: Produkte eines familiären und gesellschaftlichen Milieus, in dem Lobgesänge auf eine alte oder neue Bürgerlichkeit erklingen und soziale Auslese als notwendig erachtet, sozialer Ausgleich jedoch als Zwang wahrgenommen wird.


Was lehrt uns die Begebenheit (abgesehen von der Binse, daß Wohlstand und Wohlanstand nicht automatisch Hand in Hand gehen)? Sie zeigt: DAS Merkmal gesellschaftlicher und kultureller Agonie ist nicht die massenhafte Begeisterung fürs Belanglose, sondern das vorsätzliche Herabwürdigen alles Hohen und Schönen ins Gewöhnliche und Allergewöhnlichste. Gesellschaftliche und kulturelle Agonie zeigt sich nicht dort, wo die sog. Massen tun, was sie schon immer getan haben, nämlich sich im Zeichen des jeweils kleinsten gemeinsamen Nenners auf die Schenkel zu klopfen. Der Anfang vom Ende ist erreicht, wenn ALLES einer geistig-sittlichen Verzwergung zum Opfer fällt, wenn der kleinste gemeinsame Nenner der Maßstab alles Empfindens und Bewertens wird, wenn die Unfähigkeit und/oder der Unwille, sich anrühren zu lassen, zur Schau getragen werden können, ohne auch nur ein Achselzucken hervorzurufen.


Das Verhalten jener Mustergestalten des Zeitgeistes zeigt, wie fortgeschritten der Prozeß der gesellschaftlichen Infantilisierung ist (der gesellschaftliche Prozeß fortschreitender Infantilisierung). Infantilität = Selbstbezogenheit. (Einschließlich der Unfähigkeit und/oder der Unlust, Selbsterkenntnis zu erlangen). Diese Selbstbezogenheit ist der Effekt einer Konsum-Ideologie, die ALLES in Waren verwandelt. Der Kauf einer Eintrittskarte verleiht mir dann das Recht, mich auch in der Oper so zu verhalten, wie es mir gerade in den Sinn kommt. Warum einige Zuschauer sich dennoch weiterhin Zurückhaltung auferlegen? Vielleicht erscheint ihnen die Idee, daß auch Kunstdarbietungen nur Waren seien, noch suspekt. Vielleicht möchten sie nicht unangenehm auffallen, solange Theater- bzw. Konzertbesucher existieren, die sich von quasselnden E-Mail-Tippern gestört fühlen. Man wird sehen, wohin uns die via capitalistica, dieser highway to hell, als nächstes führt.


⁎ ⁎ ⁎ ⁎ ⁎ ⁎


Nachbemerkung 2022:


Es fällt auf, dass nach COVID verstärkt Forderungen laut werden, sog. traditionelle Veranstaltungsformen zugunsten offener(er)/inklusiver(er) Konzepte dranzugeben. (Zwei Beispiele: Der Kulturmanager Folkert Uhde fordert einen New Deal für den Klassikbetrieb. // Die Klassik ist tot, es lebe die Klassik.) Das bestätigt, was ich 2012 skizziert hatte. Jeder Versuch, populär(er) zu sein, Hörer/innen dort abzuholen, wo die in ihrer Ignoranz und Indolenz sich einrichten, läuft darauf hinaus, den kleinsten gemeinsamen Nenner als ultima ratio zu akzeptieren: es solchen Gestalten, wie ich sie oben beschreibe, recht zu machen. Das ist kontraproduktiv. Selbstbeherrschung und Selbstkontrolle, das Bedürfnis und die Fähigkeit, sich freiwillig, geduldig, ernsthaft auf die großen und größten Hervorbringungen des menschlichen Geistes zu konzentrieren, ist ein Zeichen innerer und äußerer Reife. Wer keine zwei Stunden ohne Getränke, Schnittchen, Rumgequatsche aushält, soll gefälligst, anstatt Orte hoher, höchster, allerhöchster Kunst heimzusuchen, fernbleiben. Oder um erneut Arno Schmidt zu zitieren: Das Volk, jedermann, hat sich gefälligst zur Kunst hinzubemühen!


Nachbemerkung 2024:


Was mir 2012 wahrscheinlich dünkte und sich nach der Pandemie zu einem mehr als nur anekdotischen Befund verdichtete, ist inzwischen mancherorts, als Kriterium inklusiver Events, ausdrücklich erwünscht: dass Kultur-Kunden sich so gebaren mögen, wie es ihnen in den Sinn kommt und beliebt. Eine Entwicklung, die dem Umstand geschuldet ist, dass etliche der derzeit tätigen Kulturmanager/innen bereits selbst Produkte einer Konsummentalität sind, die man nach außen als inklusiv verkaufen kann, in Wirklichkeit aber allein die eigenen infantilen Befindlichkeiten gelten lässt. Ein besonders haarsträubendes Beispiel findet man in Birmingham. Seit 2023 amtiert beim dortigen, durchaus renommierten, Orchester eine CEO, die, fachfremd, nicht nur nichts von der Musik versteht, zu deren Verbreitung sie beitragen soll, sondern u. a. dekretiert hat, dass fortan Besucher/innen Getränke in den Saal mitnehmen und während der Aufführung Fotos und Videos machen dürfen (verbunden mit der Bitte, sie anschließend in den sozialen Netzwerken zu posten). Wie man hört, wird die Möglichkeit, Kunstgenuss durch das Schlürfen von Getränken zu steigern, nicht zuletzt von der CEO herself gern in Anspruch genommen... („I sat close to Emma Stenning at a concert in May. She took in a drink for during the performance, which was distracting to those sitting nearby and also disrespectful to the orchestra, who played brilliantly. She also appeared to be fidgeting through most of the concert: it genuinely seemed to us that she did not want to be there.“ // „I once paid extra to sit on the balcony, but ended up behind [Emma Stenning], and watching her fidgeting and drinking her way through incredible music.“) – Das Birminghamer Debakel ist ein weiterer Beleg für jenen bevorstehenden Totaltriumph eines dummdreisten Hurra-Narzissmus, auf den ich oben anspielte. (Zur Sicherheit sei angemerkt: Inklusivität, verstanden als Anspruch, für alle da zu sein, die auch wirklich da sein wollen, ist eine dufte Sache; sie sollte sich von selbst verstehen. Umso schlimmer, dass Inklusivität in Wirklichkeit oft bedeutet, das alles als irgendwie anstrengend Empfundene einem dumbing down unterzogen wird.)

Share by: