Marginalie über Jascha Horenstein (2012)
In interessierten Kreisen ist Jascha Horenstein (JH) kein unbeschriebenes Blatt. Er hatte und hat seine Bewunderer. Theodor W. Adorno etwa, mit dem Dirigenten befreundet seit den 1920er Jahren, war, wie man heute wohl sagen würde, ein Fan. (Besserwisser gibt es auch, natürlich. Aus Gründen, die opak bleiben, macht D. Hurwitz es sich zur einer mittleren Lebensaufgabe, gegen JH und den, wie er, Hurwitz, es nennt, Horenstein cult zu polemisieren.) Besonders als Interpreten der symphonischen Kosmoi Gustav Mahlers kennt und schätzt man JH. Hätte er Außergewöhnliches aber nur als Mahler-Dirigent vorzuweisen, wäre das seltsam. Will man JHs Klang-Ästhetik im Allgemeinen charakterisieren, muss man zweierlei berücksichtigen. Erstens die Verbindung eines nachgerade expressionistischen Farbsinns mit einem seltenen Gespür für die Topographie einer Partitur; zweitens die Simultaneität von unerbittlicher Deutlichkeit in der vertikalen Dimension und gleichsam sprechenden Phrasierungsverläufen auf der horizontalen Achse.
Ein Beispiel: der Anfang von Brahms’ 1. Symphonie in der von Charles Gerhardt und Kenneth Wilkinson fabelhaft realisierten Aufnahme mit dem London Symphony Orchestra (1962). Monochrom wirkt er oft, undurchsichtig, spannungslos-statisch. Bei JH vibriert das Orchester bis in die letzte Klangfaser. Was nicht metaphorisch gemeint ist. Kein anderer Dirigent spannt hier die Vertikale weiter auf. Im Bass-Bereich differenziert JH zwischen Pauke, Kontrabässen, Kontrafagott, und speziell durch die fast haptische Präsenz des Kontrafagotts, unhörbar in fast allen Einspielungen, erhält der dräuend-pochende Achtel-Rhythmus eine ungewohnte Klang-Kontur. (Was immer ohrenfällig wird bei JH: die formtreibende Kraft des Rhythmus – die gleichberechtigt neben die formbildende Kraft der Harmonik tritt.) Manchmal heißt es, JH neige dazu, Tempi zu strikt zu halten bzw. zu vereinheitlichen. Auf diese Weise wolle er, mutmaßen die einen, den sprichwörtlichen großen Bogen hörbar machen. Andere behaupten, dass er dadurch Kontraste einebne. Beides Unfug. Weder sind JHs Zeitmaße unflexibel, noch fasst er sie unter eine one tempo fits all-Regel. Der 1. Satz der Brahms-Symphonie etwa ist ein Muster agogischen Feingefühls. Man achte nur auf die Passage von Takt 145 bis Takt 161 (Exposition) bzw. 418 bis 434 (Reprise). Wie JH durch leichte Verzögerungen dem gespenstischen Wechsel von Dur nach Moll (perdendosi) und, jeweils über fünf Takte hinweg, dem Wiederansteigen der Spannung eine rhetorische Qualität verleiht, falsifiziert zum einen das Vor-Urteil der „chronic rhythmic stiffness“ (D. Hurwitz) und zeigt zum anderen, wie JH gerade und erst recht im Detail der musikalischen Dialektik von Spannung und Entspannung folgt.
JH weiß gleichzeitig instrumentale Klarheit zu schaffen und symphonische Spannungsabläufe zu entwickeln. Das ergibt eine eigentümliche Mischung von kammermusikalischer Transparenz und explosiver Wucht. Hinzu kommt: Textakribie. JH ist einer der drei, vier Dirigenten, die im 4. Satz beim Seitenthema der animato-Anweisung folgen und das Tempo anziehen (und nicht, wie üblich, langsamer werden). Der Unterschied ist verblüffend. Es setzt, wie vom Komponisten beabsichtigt, eine Dynamik in Gang, die den Ostinato-Figuren der Celli und Bässe etwas Nervöses gibt und schließlich in einer vehementen orchestralen Geste kulminiert (Buchstabe F bzw. O). In der Regel verärgern hier (Takt 118 ff. bzw. Takt 301 ff.) willkürliche Temposchwankungen, deren Ursache eine Prädilektion für schöne Stellen ist. Schöne Stellen hört man auch bei JH – immer aber im Rahmen des übergeordneten Ganzen, nie selbstzweckhaft. Vielleicht ist es seine Weigerung, die Topographie (oder Architektonik) einer Partitur im Zeichen subjektiv-episodischer Moment-Empfindungen zu verfremden, die den einen oder anderen dazu bringt, von einer Musizierweise zu fabulieren, die stiff oder tedious sei.
Zu betonen, dass eine musikalische Darbietung weiten Atem und große Bögen entwickle, gehört zum Plattitüden-Repertoire feuilletonistischer Quackler. Doch steckt, wie man weiß, in jedem Cliché eine Wahrheit. (Was selbst ein Cliché ist.) Was solche Gemeinplätze sagen wollen, aber nicht sagen können: Weitatmigkeit und Großbögigkeit meinen nichts anderes als die Fähigkeit, die Topographie (oder Architektonik) einer Partitur, den inneren Zusammenhang eines Werkes vom ersten Ton bis zum letzten, so erfahrbar zu machen, dass es möglich wird, den musikalischen Prozess – die Dialektik von Spannung und Entspannung, das Aufeinanderbezogensein der Ruhe- und Höhepunkte – hörend nachzuvollziehen. Die Aufgabe des Dirigenten besteht darin, einerseits die harmonischen, dynamischen und klangfarblichen Ebenen zu koordinieren und andrerseits dem unausgesetzten Auf und Ab der musikalischen Entwicklung, dem inneren Zusammenhang der Ereignisfolge, Raum zu geben. JH weiß dieser Aufgabe zu entsprechen. Und: Je weiter eine Partitur ausgreift, desto evidenter wird es. Dass JH namentlich als Bruckner- und Mahler-Interpret bekannt ist, hat seinen Grund.
Ein zweites Beispiel: JHs (leider nicht von C. Gerhardt und K. Wilkinson betreute)
Einspielung von Mahlers 1. Symphonie mit dem London Symphony Orchestra (1969). Konkurrenzlos in ihrer Einheit von Partiturgenauigkeit und größträumiger Struktur-Übersicht ist sie.
The real deal. Wer Ohren hat zu hören, merkt das wieder in den ersten Takten bereits: wenn auf dem zugleich flirrenden und abgrundtiefen
A-Orgelpunkt der Streicher zuerst Piccoloflöte, Oboe, Klarinetten, dann Flöten, Englischhorn, Baßklarinette, schließlich Oboe und Fagotte die fallende Quarte
a–e intonieren. Die Schichten des siebenoktavigen Klang-Raums sind genau ausbalanciert, die Holzbläser-Timbres nicht, wie so häufig, verwaschen, sondern unterscheidbar auch im
pp. Die signalartigen Einwürfe der Klarinetten (Takt 9 ff.) und Trompeten (Takt 22 ff.) bilden weniger einen Gegensatz zum Unisono
A, sondern scheinen vielmehr aus ihm heraus sich zu entwickeln. Aufs Großartigste gelingt die langsame Steigerung ab Ziffer 24, die den Höhepunkt des 1. Satzes initiiert: den triumphalen Durchbruch jenes Horn-Themas, das zuerst bei Ziffer 15 geheimnisvoll im
ppp auftaucht. JH hat, in Übereinstimmung mit Mahlers Direktiven, keine Hemmungen, ins Extrem zu gehen. Er ist der einzige, der die Anweisungen
Von hier ab […]
unmerklich, aber stetig
breiter werden und
Immer noch etwas zurückhaltend wirklich ernst nimmt (fast alle anderen Dirigenten halten das Zeitmaß oder steigern es sogar). Verglichen mit dieser Eruption wirkt die Stelle in jeder anderen Aufnahme stromlinienförmig oder unkoordiniert.
Neben vielem anderen ist bemerkenswert auch, dass JH, im Unterschied zur überwältigenden Mehrheit der Dirigenten, die Klezmer-Stellen des 3. Satzes nicht beschleunigt, sondern, wie von Mahler notiert, das Grundtempo beibehält. Die allermeisten Dirigenten ruinieren die Wirkung der zum letzten Mal in Takt 139, dann aber Plötzlich viel schneller einsetzenden Klezmer-Musik, weil sie sie vorher bereits viel schneller hatten spielen lassen (in doppeltem Tempo nicht selten). Bei JH wirkt diese Stelle zwischen Ziffer 16 und 17 herzzerreißend, weil sie im Zusammenhang des Satzganzen den Eindruck eines kurzen, vergeblichen Aufbäumens vermittelt.
Mit einer orchestralen Gewalt sondergleichen geht JH den 4. Satz an. Sie adäquat akustisch einzufangen, dazu war die Aufnahmetechnik nicht in der Lage. (In Parenthese: Ohrenzeugen berichten, dass es JH, wenn angebracht und notwendig, daran gelegen war, das GESAMTE dynamische Spektrum des Orchesters auszuschöpfen. Misha Horenstein, JHs Cousin und unermüdlicher Sachwalter, notiert: „Because of [Horenstein’s] use of a very wide dynamic range you sometimes had to strain your ears to hear what was going on, at other times it was so loud you could only laugh in disbelief. Crescendos and decrescendos were breathtaking, you held your breath during transition sections not daring to even breathe.“) Der erste trügerische Durchbruch ab Ziffer 32 klingt wuchtiger als gewohnt. Was ihn nicht nur deutlich in eine antithetische Beziehung zu den vorausgegangenen Konflikten bringt (nicht nur als normale dynamische Steigerung erscheinen lässt), sondern ebenso deutlich in eine Korrelation mit dem zweiten, nun endgültigen Durchbruch ab Ziffer 51. Abermals ist es nur JH, der Mahlers Vorschriften Zurückhaltend und Immer breiter derart konsequent umsetzt. Die orchestrale Energie, die während der neun Takte zwischen Ziffer 52 und 53 freigesetzt wird, ist unerhört! Was dann ab Ziffer 55 bis zum Schluss sich ereignet, hat in der gesamten Mahler-Diskographie kaum Entsprechungen. Von der Wirkung her ist es allenfalls damit vergleichbar, wie Sergiu Celibidache Bruckners Schlusssteigerungen ausmusiziert. Einmal mehr ist JH der einzige, der Mahlers dreifache Anweisung Triumphal (Nicht eilen). Pesante (Ziffer 56) so umsetzt, wie der Komponist es intendierte. Die Wirkung ist, vor allem dann, wenn man das Werk kennt, aber zum ersten Mal JHs Aufnahme hört, erschütternd. Wie keinem anderen gelingt es ihm, den D-Dur-Choral zum höchsten Höhepunkt des ganzen Werkes zu machen. Von hier aus erschließt die innere Logik der Symphonie sich rückblickend mit all ihren Auf-, Ab- und Umbrüchen – die in diesem Moment eine sie aufhebende Aussöhnung erfahren. (Eine Aussöhnung, die der 1. Satz der 2. Symphonie, worin bekanntlich der Held der Ersten zu Grabe getragen wird, wieder zunichtemacht.)