Marginalie über Jascha Horenstein (2012)
In interessierten Kreisen ist Jascha Horenstein (JH) kein unbeschriebenes Blatt. Er hatte und hat seine Bewunderer. Theodor W. Adorno z. B., befreundet mit JH seit den 1920er Jahren, war, wie man heute sagen würde, ein Fan. (Klugschwätzer gibt es auch, gewiss. Aus Gründen, die opak bleiben, macht David Hurwitz es sich zur einer mittleren Lebensaufgabe, gegen JH und den, wie er, Hurwitz, es nennt, Horenstein cult zu polemisieren.) Man kennt und schätzt JH besonders als Interpreten der symphonischen Kosmen Anton Bruckners und Gustav Mahlers. Hätte er Außergewöhnliches aber nur als Bruckner- und Mahler-Dirigent geleistet, wäre das seltsam. Ganz grundsätzlich formuliert: In JHs Klang-Ästhetik verbindet sich ein nachgerade expressionistischer Farbsinn mit einem seltenen Gespür für die Topographie einer Partitur. Charakteristisch ist eine Simultaneität von unerbittlicher Deutlichkeit in der vertikalen Dimension und gleichsam sprechenden Phrasierungsverläufen auf der horizontalen Achse.
Ein Beispiel: Der Beginn von Brahms’ 1. Symphonie in der von Charles Gerhardt und Kenneth Wilkinson fabelhaft realisierten Aufnahme mit dem London Symphony Orchestra (1962). Monochrom wirkt er oft, undurchsichtig, spannungslos-statisch. Bei JH vibriert das Orchester bis in die letzte Klangfaser. Was nicht metaphorisch gemeint ist. Kein anderer Dirigent spannt hier die Vertikale weiter auf. Im Bass-Bereich differenziert JH zwischen Pauke, Kontrabässen, Kontrafagott, und speziell durch die fast haptische Präsenz des Kontrafagotts, unhörbar in fast allen Einspielungen, erhält der dräuend-pochende Achtel-Rhythmus eine ungewohnte Klang-Kontur. (Was immer ohrenfällig wird bei JH: die formtreibende Kraft des Rhythmus – die gleichberechtigt neben die formbildende Kraft der Harmonik tritt.) Manchmal heißt es, JH neige dazu, Tempi zu strikt zu halten bzw. zu vereinheitlichen. Auf diese Weise wolle er, mutmaßen die einen, den sprichwörtlichen großen Bogen hörbar machen. Andere behaupten, dass er dadurch Kontraste einebne. Beides Unfug. Weder sind JHs Zeitmaße unflexibel, noch fasst er sie unter eine one tempo fits all-Regel. Der 1. Satz der Brahms-Symphonie etwa ist ein Muster agogischen Feingefühls. Man achte nur auf die Passage von Takt 145 bis Takt 161 (Exposition) bzw. 418 bis 434 (Reprise). Wie JH durch leichte Verzögerungen dem gespenstischen Wechsel von Dur nach Moll (perdendosi) und, jeweils über fünf Takte hinweg, dem Wiederansteigen der Spannung eine rhetorische Qualität verleiht, falsifiziert zum einen das Vor-Urteil der „chronic rhythmic stiffness“ (D. Hurwitz) und zeigt zum anderen, wie JH gerade und erst recht im Detail der Dialektik von Spannung und Entspannung folgt.
JH weiß gleichzeitig instrumentale Klarheit zu schaffen und symphonische Spannungsabläufe zu entwickeln – was eine eigentümliche Mischung von kammermusikalischer Transparenz und explosiver Wucht ergibt. Hinzu kommt: Textakribie. JH ist einer der sehr wenigen, die im 4. Satz beim Seitenthema die animato-Anweisung respektieren und das Tempo anziehen (und nicht, wie üblich, langsamer werden). Der Unterschied ist verblüffend. Es setzt, wie vom Komponisten beabsichtigt, eine Dynamik in Gang, die den Ostinato-Figuren der Celli und Bässe etwas Nervöses gibt und schließlich in einer vehementen orchestralen Geste kulminiert (Buchstabe F bzw. O). In der Regel verärgern hier (Takt 118 ff. bzw. Takt 301 ff.) willkürliche Temposchwankungen, deren Ursache eine Prädilektion für schöne Stellen sein mag. Schöne Stellen hört man auch bei JH – aber immer im Rahmen des übergeordneten Ganzen, nie selbstzweckhaft. Vielleicht ist es seine Weigerung, die Topographie (oder Architektonik) einer Partitur im Zeichen subjektiv-episodischer Moment-Empfindungen zu verfremden, die den einen oder anderen dazu bringt, von einer Musizierweise zu fabulieren, die stiff, tedious sei.
Einem Dirigenten zu bescheinigen, dass er in einer Aufführung Weitatmigkeit und Großbögigkeit vereine, gehört zum Plattitüden-Repertoire feuilletonistischer Quatschköpfe. Allein, in jedem Cliché steckt ein wahrer Kern. (Was selbst ein Cliché ist.) Weitatmigkeit und Großbögigkeit sind nichts anderes als Merkmale der musikalischen Fähigkeit, die Topographie (oder Architektonik) einer Partitur, den inneren Zusammenhang eines Werkes vom ersten Ton bis zum letzten, so erfahrbar zu machen, dass es möglich wird, dem musikalischen Prozess – der Dialektik von Spannung und Entspannung, dem Aufeinanderbezogensein der Ruhe- und Höhepunkte – hörend zu folgen. Die Aufgabe eines Dirigenten besteht darin, einerseits die harmonischen, dynamischen, klangfarblichen Ebenen zu koordinieren und andrerseits dem unausgesetzten Auf und Ab der musikalischen Entwicklung, dem inneren Zusammenhang der musikalischen Ereignisfolge, Raum zu geben. JH weiß dieser Aufgabe zu entsprechen. Und: Je weiter eine Partitur ausgreift, desto evidenter wird es. Dass JH namentlich als Bruckner- und Mahler-Interpret bekannt ist, hat also seinen Grund.
Ein zweites Beispiel: JHs (leider nicht von C. Gerhardt und K. Wilkinson betreute) Einspielung von Mahlers 1. Symphonie mit dem London Symphony Orchestra (1969). Bis heute konkurrenzlos in ihrer Einheit von Partiturgenauigkeit und größträumiger Struktur-Übersicht. The real deal. Wer Ohren hat zu hören, merkt das wieder in den ersten Takten bereits: wenn auf dem zugleich flirrenden und tiefdunklen A-Orgelpunkt der Streicher zuerst Piccoloflöte, Oboe, Klarinetten, dann Flöten, Englischhorn, Baßklarinette, schließlich Oboe und Fagotte die fallende Quarte a–e intonieren. Die Schichten des siebenoktavigen Klang-Raums sind genau ausbalanciert, die Holzbläser-Timbres nicht, wie so häufig, verwaschen, sondern unterscheidbar auch im pp. Die signalartigen Einwürfe der Klarinetten (Takt 9 ff.) und Trompeten (Takt 22 ff.) bilden weniger einen Gegensatz zum Unisono A, sondern scheinen vielmehr aus ihm heraus sich zu entwickeln. Aufs Großartigste gelingt die langsame Steigerung ab Ziffer 24, die den Höhepunkt des 1. Satzes initiiert: den triumphalen Durchbruch jenes Horn-Themas, das zuerst bei Ziffer 15 geheimnisvoll im ppp auftaucht. JH hat, in Übereinstimmung mit Mahlers Direktiven, keine Hemmungen, ins Extrem zu gehen. Er ist der einzige, der die Anweisungen Von hier ab […] unmerklich, aber stetig breiter werden und Immer noch etwas zurückhaltend wirklich ernst nimmt (fast alle anderen Dirigenten halten das Zeitmaß oder steigern es sogar). Verglichen mit dieser Eruption wirkt die Stelle in jeder anderen Aufnahme stromlinienförmig oder unkoordiniert.
Neben vielem anderen ist bemerkenswert, dass JH, im Unterschied zur überwältigenden Mehrheit der Dirigenten, die Klezmer-Stellen des 3. Satzes nicht beschleunigt, sondern, wie von Mahler notiert, das Anfangstempo beibehält. Die allermeisten Dirigenten ruinieren die Wirkung der zum letzten Mal in Takt 139, dann aber Plötzlich viel schneller einsetzenden Klezmer-Musik, weil sie sie vorher bereits viel schneller hatten spielen lassen (in doppeltem Tempo nicht selten). Bei JH wirkt diese Stelle zwischen Ziffer 16 und 17 herzzerreißend, weil sie im Zusammenhang des Satzganzen den Eindruck eines kurzen, vergeblichen Aufbäumens vermittelt.
Mit einer orchestralen Gewalt sondergleichen geht JH den 4. Satz an. Sie adäquat akustisch einzufangen, dazu war die Aufnahmetechnik nicht in der Lage. (In Parenthese: Ohrenzeugen berichten, dass es JH, wenn angebracht und notwendig, daran gelegen war, das GESAMTE dynamische Spektrum des Orchesters auszuschöpfen. Misha Horenstein, JHs Cousin und unermüdlicher Sachwalter, notiert: „Because of [Horenstein’s] use of a very wide dynamic range you sometimes had to strain your ears to hear what was going on, at other times it was so loud you could only laugh in disbelief. Crescendos and decrescendos were breathtaking, you held your breath during transition sections not daring to even breathe.“) Der erste trügerische Durchbruch ab Ziffer 32 klingt wuchtiger als gewohnt. Was ihn nicht nur deutlich in eine antithetische Beziehung zu den vorausgegangenen Konflikten bringt (nicht nur als normale dynamische Steigerung erscheinen lässt), sondern ebenso deutlich in eine Korrelation mit dem zweiten, nun endgültigen Durchbruch ab Ziffer 51. Wieder ist es nur JH, der Mahlers Vorschriften Zurückhaltend und Immer breiter derart konsequent umsetzt. Die orchestrale Energie, die während der neun Takte zwischen Ziffer 52 und 53 freigesetzt wird, ist unerhört! Was dann ab Ziffer 55 bis zum Schluss geschieht, hat in der gesamten Mahler-Diskographie kaum Entsprechungen. Von der Wirkung her ist es allenfalls damit vergleichbar, wie Sergiu Celibidache Bruckners Schlusssteigerungen ausmusiziert. Einmal mehr ist JH der einzige, der Mahlers dreifache Anweisung Triumphal (Nicht eilen). Pesante (Ziffer 56) so umsetzt, wie der Komponist es intendierte. Die Wirkung ist, vor allem dann, wenn man das Werk kennt, aber zum ersten Mal diese Aufnahme hört, erschütternd. Wie keinem anderen gelingt es JH, den D-Dur-Choral zum höchsten Höhepunkt des ganzen Werkes zu machen. Von hier aus erschließt die innere Logik der Symphonie sich rückblickend mit all ihren Auf-, Ab- und Umbrüchen – die in diesem Moment eine sie aufhebende Aussöhnung erfahren. (Eine Aussöhnung, die der 1. Satz der 2. Symphonie, worin bekanntlich der Held der Ersten zu Grabe getragen wird, wieder zunichtemacht.)