Lévi-Strauss

Claude Lévi-Strauss


Struktur und Moiré bei Claude Lévi-Strauss (2012)


Wenn der zur lebhaften Beobachtung aufgeforderte Mensch mit der Natur einen Kampf zu bestehen anfängt, so fühlt er zuerst einen ungeheuern Trieb, die Gegenstände sich zu unterwerfen. Es dauert aber nicht lange, so dringen sie dergestalt gewaltig auf ihn ein, daß er wohl fühlt, wie sehr er Ursache hat, auch ihre Macht anzuerkennen und ihre Einwirkung zu verehren.

J. W. v. Goethe, Bildung und Umbildung organischer Naturen (1817)


Anzunehmen, das, was ist, lasse sich aus einem unwandelbaren Ur-Punkt heraus erklären, ist in der Moderne buchstäblich sinnlos. Daß sich hinter jedem Sinn einzig und allein Nicht-Sinn verbirgt, sollte spätestens seit Friedrich Nietzsche und Ferdinand de Saussure bekannt sein. Anstatt weiterhin zu fragen, welches die ersten oder letzten Gründe alles Seins und Wissens sind, untersucht der moderne Geist Strukturen: der Erfahrung, der Dinge, des Wissens.


Claude Lévi-Strauss’ Strukturalismus – der Begriff ist Programm – zielt darauf, die innere Organisation bzw. Struktur symbolischer Ordnungen zu entschlüsseln, die Art und Weise, wie darin einzelne Elemente in Beziehung stehen und auf diese Weise Voraussetzungen für Sinn und Bedeutung schaffen. Je weiter er seine Forschungstätigkeit ausdehnte – von Heiratsregeln auf Klassifikations-Systeme und Mytho-Logik (Mythologie) –, desto deutlicher wurde: Die strukturale Syntax/Grammatik jener Phänomene, die in den Bereich symbolischer Ordnungen gehören, ist universal, also nicht zuletzt auch in der Natur zu finden. Das heißt, daß die Struktur der Sprache und der symbolischen Ordnungen die Arbeitsweise des menschlichen Geistes (des Gehirns) spiegelt, daß die Struktur des menschlichen Geistes (des Gehirns) die Struktur der Natur spiegelt. Letztlich enthüllt der Strukturalismus EINE ontologische Struktur, deren Merkmale Binarität, Reziprozität, Oppositionalität sind.


Lévi-Strauss’ Methode scheint synkretistisch zu sein. Er hat keine Bedenken, Erscheinungen aus dem Gebiet der Ästhetik auf seine wissenschaftliche Forschungsarbeit zu übertragen. Er verbindet die Leitmotiv-Montage Richard Wagners mit den Erkenntnissen der strukturalistischen Linguistik Saussures,
Roman Jakobsons und André Martinets, um der inneren (strukturellen) Logik von Mythen beizukommen. Diese Gleichzeitigkeit der Perspektiven finden wir nicht nur auf der Ebene der (fach)wissenschaftlichen Analyse (und Synthese), sondern auch auf der Darstellungsebene. Lévi-Strauss zieht verschiedene stilistische Register, bedient sich unterschiedlicher Textsorten, die gleichberechtigt nebeneinander stehen. Am vielschichtigsten sind, was das angeht, die berühmten Tristes tropiques – deren Lektüre den amerikanischen Ethnologen  Clifford Geertz veranlaßt hat, Lévi-Strauss’ Arbeits- und Schreibweise als Moiré zu charakterisieren (vgl. C. Geertz: Works and Lives. The Anthropologist as Author, Stanford 1988, S. 32 f., S. 44; [dt.: Die künstlichen Wilden: Der Anthropologe als Schriftsteller, München/Wien 1990, S. 39 f., S. 48]). Ohne es darauf anzulegen, denn er behandelt den Strukturalismus eher geringschätzig, liefert Geertz einen Schlüssel zu dessen Verständnis.


Ganz allgemein formuliert ist ein Moiré der strukturelle bzw. optische Effekt einer Überlagerung mindestens zweier Muster/Raster, die entweder strukturgleich, aber gegeneinander verdreht sind, oder von vornherein eine nur fast gleiche Struktur aufweisen. Die Überlagerung/Verschiebung der (beinahe) identischen Strukturen erzeugt einen netzartigen Schimmer, den sogenannten Moiré-Effekt. Daß Geertz unbeabsichtigt auf der richtigen Spur ist, zeigt sich bereits daran, wie er den Begriff des Moirés verwendet, um Lévi-Strauss scheinbar uneinheitlichen bricoleur-style zu kritisieren (vgl. ebd., S. 31; ([dt.: S. 38]), ein Moiré im Gegenteil aber nur dann entstehen kann, wenn die ihm zugrunde liegenden Muster/Raster identisch oder sehr ähnlich sind. Bei genauerem Hinsehen zeigt Geertz’ Moiré-Beispiel das Gegenteil dessen, was es beweisen soll.


Lévi-Strauss’ Methode ist weder beliebig noch uneinheitlich, weil erstens ihr Zweck darin liegt, die jeweils angemessenen Mittel zu finden, und zweitens das, was jeweils angemessen ist, nicht im Belieben des Forschers liegt, sondern sich aus der Beschaffenheit des jeweiligen Untersuchungsgegenstandes ergibt. Die Pointe ist, daß die Phänomene, die Lévi-Strauss’ Aufmerksamkeit erregen – Verwandtschaftsverhältnisse, Klassifikations-Systeme, Mytho-Logik – sich nur an der Oberfläche als heterogen erweisen. Schaut man hinter oder unter ihre Oberfläche, treten dieselben oder fast identische Strukturen zutage.


Ein Moiré entsteht, wie gesagt, wenn Raster interferieren, sich überlagern. Ein Raster ist ein System regelmäßig angeordneter Punkte, die eine bestimmte Struktur bilden. In der Drucktechnik spielt das Raster (bzw. die Rasterung) eine Rolle bei der Erzeugung von Graustufen und Halbtönen. Die Illusion eines Mischtons entsteht, weil die Farbpunkte der vier Grundfarben Cyan, Magenta, Gelb und Schwarz in einem genau definierten Abstand zueinander angeordnet sind. Die Bedeutung, also der Wert eines Mischtons (seine Position im Farbspektrum) resultiert nicht aus der Wirkung einzelner Farbpunkte (den Farbpunkten der Grundfarben), sondern aus den Zwischenräumen zwischen den Farbpunkten (der sogenannten Rasterweite). In der Sprache verhält es sich nicht anders. Die Bedeutung, also der Wert eines Wortes (Zeichens), ergibt sich nicht aus (s)einer isolierten Positivität, sondern aus (s)einer Differenz zu anderen Worten (Zeichen). Weitere Gemeinsamkeiten liegen auf der Hand. Genauso wie die Farbpunkte in noch kleinere Einheiten zerlegt werden können, nämlich in dots per inch (dpi), bestehen auch Worte, oder genauer: Morpheme, aus solchen Elementareinheiten: den Phonemen. In beiden Fällen handelt es sich um kleinste, selbst bedeutungslose Einheiten, deren differentielle Verknüpfung Bedeutung ermöglicht/hervorbringt. Kurzum: Der Zwischenraum zwischen a und b ist das, was Bedeutung ermöglicht/hervorbringt. Die Bedeutung, der Wert von etwas – sei es ein Farbpunkt, sei es Wort – erklärt sich daraus, daß es Element einer übergeordneten Struktur ist, worin es (s)einen Wert durch (s)eine Differenz zu allen anderen Elementen erhält: in (s)einer und durch (s)eine Oppositionalität.


Das gilt auch für Verwandtschaftsstrukturen/Heiratsregeln, Klassifikations-Systeme, Mytho-Logik (Mythologie). Die Elementareinheiten der Verwandtschaftsstrukturen sind „die sie konstituierenden Individuen, die ohne Unterlaß ersetzt, ausgeliehen, geborgt, abgetreten oder eingefordert werden, und zwar so, daß sich aus den abgesplitterten Familienfragmenten neue bilden können, bevor sie ihrerseits wieder auseinander brechen.“ (Der Blick aus der Ferne, Frankfurt a. M. 2008, S. 307). Die Elementareinheiten der Klassifikations-Systeme sind Natursymbole (pflanzlich, tierisch, mineralisch), deren Verknüpfung „eine Sprache mit beschränktem Vokabular ergibt, die jede beliebige Nachricht durch Kombinationen von Gegensätzen zwischen diesen konstitutiven Einheiten auszudrücken versteht“. (Das wilde Denken, Frankfurt a. M. 1973, S. 307) Die Elementareinheiten der Mytho-Logik werden „einer theoretisch unbegrenzten Reihe historischer oder als solche geltender Vorfälle entnommen, aus der jede Gesellschaft zur Produktion ihrer Mythen eine begrenzte Anzahl relevanter Ereignisse zieht.“ (Das Rohe und das Gekochte, Frankfurt a. M. 1976, S. 31). Das (unbewußte) Ziel ist, mit Hilfe dieser Elementareinheiten fundamentale Gegensätze/Oppositionen zu erklären und zwischen ihnen zu vermitteln (Leben vs. Tod, männlich vs. weiblich, Natur vs. Kultur usw. usf.).


Bleiben wir bei der Mytho-Logik. Ein Mythos, kann man sagen, besitzt in dem Maß die Eigenschaften eines Moirés, wie er „aus der Gesamtheit seiner Varianten“ besteht (Strukturale Anthropologie I, Frankfurt a. M. 1977, S. 239). Ein Mythos ist also der Effekt einer narrativen Überlagerung, und der Mythen-Forscher hat es mit einer strukturellen Rasterung zu tun, dessen Interferenzen er minimieren muß, um die jeweils kleinsten Bestandteile/Einheiten/Elemente, die sogenannten Mytheme, isolieren zu können. Während in der Drucktechnik das Moiré als fehlerhafte Interferenzerscheinung gilt, erweist es sich auf dem Hintergrund der Mytho-Logik als deren Voraussetzung: Ein Mythos IST der Effekt von Interferenzen, von sich überlagernden Mythen-Varianten, die eine bestimmte strukturelle Rasterung erzeugen.


In der Drucktechnik ergibt sich ein Moiré, wenn mehrere Farben übereinander gedruckt werden und die einzelnen Farbpunkte sich ungewollt überlagern (anstatt einen genau definierten Abstand einzuhalten). Man minimiert bzw. verhindert diesen Effekt, indem man die Struktur der Raster um einen bestimmten Winkel dreht (im Vierfarbdruck: Gelb 0º, Cyan 15º, Schwarz 45º, Magenta 75º). Etwas Ähnliches unternimmt der Mythen-Forscher. Er dreht gleichsam die Winkel, in denen die Mytheme zueinander stehen. Er entrastert einen Mythos, indem er ihn zuerst auf der diachronischen Achse (↔) in Einzelaussagen/Mytheme zerlegt, die der narrativen Sequenz der Erzählung entsprechen. Anschließend ordnet er alle inhaltlich verwandten Aussagen/Mytheme auf der synchronischen Achse (↕) einander zu (vgl. ausführlich: Strukturale Anthropologie I, a. a. O., S. 232–239). Der strukturalistische Mythen-Forscher entrastert das mythologische Moiré, indem er dessen kleinste Einheiten diachronisch isoliert und synchronisch kombiniert. So wie der Druckgraphiker die kleinsten Einheiten des Farbrasters um bestimmte Winkel dreht, damit sie zueinander im richtigen (moiréfreien) Verhältnis stehen, so dreht Lévi-Strauss die kleinsten Einheiten des mythologischen Rasters um 90° (vom Diachronischen ins Synchronische), so daß ihr innerer Zusammenhang, ihr relationaler Charakter, deutlich werden kann. Die korrekte Rasterwinkelung in der Druckgraphik ist übrigens ebensowenig zufällig wie die 90°-Drehung in der strukturalen Mythen-Analyse. Während im Fall der Rasterwinkelung die physiologische Beschaffenheit des menschlichen Auges entscheidend ist, folgt die synchro-diachronische Struktur des Mythos den kognitiven Mechanismen bzw. Strukturen, mit deren Hilfe der menschlichen Geist die ihn umgebende Umwelt verarbeitet, klassifiziert, in Symbole und Begriffe verwandelt.


Der Moiré-Charakter des Mythos ist eine Objekteigenschaft. Sie wird vom Mythen-Forscher aber noch dadurch verstärkt, daß er die verschiedenen Varianten eines Mythos „alle mit dem gleichen Ernst betrachtet“ (Strukturale Anthropologie I, a. a. O., S. 239). Lévi-Strauss erschafft insofern Moirés mit Moirés, als das Endziel nicht in der strukturalen Analyse nur eines einzigen Mythos liegt, sondern in der Klassifikation ganzer Mythen-Gruppen und Mythen-Systeme. Diese vom Mythen-Forscher ausgehende Überlagerung ist freilich die Voraussetzung der strukturalen Mythen-Analyse. Die synchronische Funktion, die sie innerhalb ihrer symbolischen Ordnungen haben, offenbaren Mythen nur dann, wenn man sie gleichsam übereinanderlegt. (Was, siehe oben, nur möglich ist, weil sie von vornherein Effekte struktureller Überlagerungen sind.)


Eine andere Bewandtnis hat es mit jenen stilistischen oder gattungstechnischen Moirés, die Lévi-Strauss vor allem in Tristes tropiques erzeugt, indem er verschiedene Genres mischt (Reisebericht, Wissenschaftsbuch, Essai, philosophische Abhandlung, Autobiographie). Allein: Wenn ein Moiré voraussetzt, daß die ihm zugrunde liegenden Muster/Raster (fast) übereinstimmen: Inwiefern kann man in diesem Zusammenhang dann, wie Geertz, von einem Moiré sprechen? („Looking at Tristes tropiques in text-building terms as the arch-text out of which the other texts are the first thing to be said is that it is several books at once, several quite different texts superimposed one upon the other to bring out an overall pattern, rather like a moiré.“ [Geertz, a. a. O., S. 32; {dt.: S. 39}].) Die Antwort lautet: So, wie Geertz es tut, gar nicht. Er findet ein passendes Bild (das Moiré) für eine falsche Interpretation des Lévi-Straussschen Strukturalismus. Gleichwohl ist Lévi-Strauss’ Buch ein stilistisches und thematisches Moiré in dem Sinn, daß die Einheit seiner Muster/Raster in seinem Gegenstand liegt. Sein Gegenstand ist das Verhältnis von Eigenem/Selbem und Fremdem/Anderem in allen seinen Dimensionen: kulturell, anthropologisch, ethnologisch, ökologisch, politisch, ästhetisch, philosophisch usw. Die Herausforderung besteht darin, den jeweils richtigen Blickwinkel einzunehmen und die jeweils angemessene Darstellungsweise zu finden. Genau genommen verdankt sich auch das stilistische und thematische Moiré der Tristes tropiques einer unumgänglichen Überlagerung, nämlich der Vielschichtigkeit des Untersuchungsgegenstandes Mensch.



Share by: