Lévi-Strauss und die Sprachhaftigkeit der Musik

Musik und Sprache


Zur Sprachhaftigkeit von Musik bei Claude Lévi-Strauss (2012)


Die Musik ist, wenn als Ausdruck der Welt angesehn, eine im höchsten Grad allgemeine Sprache, die sich sogar zur Allgemeinheit der Begriffe ungefähr verhält wie diese zu den einzelnen Dingen.

Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung (1818)


La musique est le suprême mystère des sciences de l’homme.

C. Lévi-Strauss, Le Cru et le cuit (1964)


Lévi-Strauss’ theoretischer Ausgangspunkt sind die Struktur-Lehren der modernen Linguistik. Von Ferdinand de Saussure übernimmt er 1. die Bestimmung des sprachlichen Zeichens als differentielle Einheit von Signifikant und Signifikat; 2. die Definition von Bedeutung als Relation zwischen Zeichen; 3. die These von der Arbitrarität bzw. Konventionalität des Zeichens; 4. die Erkenntnis einer unbegrenzten sprachlichen Produktivität (eine begrenzte Anzahl von Regeln eröffnet unbegrenzte Möglichkeiten, Nachrichten/Botschaften zu codieren).


Von Roman Jakobson übernimmt Lévi-Strauss 1. die multidisziplinäre Vorgehensweise (Semiotik als Allgemeine Kommunikationswissenschaft); 2. das Prinzip des Binarismus (das besagt, daß die kleinsten sprachlichen Einheiten binäre Gegensätze bzw. distinktive Merkmale sind, aus deren Kombination eine nächsthöhere Struktur resultiert); 3. die Unterscheidung von Paradigma/Metapher/Similarität einerseits und Syntagma/Metonymie/Kontiguität andrerseits (d. h.: die Unterscheidung der Zeichen-Selektion von der Zeichen-Kombination). 


Von André Martinet übernimmt Lévi-Strauss den Begriff der doppelten Artikulation (double articulation) bzw. zweifachen Gliederung (Artikulation, Gliederung = Struktur). Demnach besitzt jedes Zeichen-System zwei Ebenen: Die erste Ebene ist die, auf der Einheiten mit Bedeutung liegen (in der Wortsprache ist die kleinste bedeutungstragende Einheit das Morphem). Die zweite Ebene ist die, auf der in sich selbst bedeutungsleere, aber distinktive und Bedeutung ermöglichende Einheiten liegen (in der Wortsprache das Phonem). (Lévi-Strauss verwendet dieses Einteilung, was auch logischer ist, andersherum. Bei ihm ist die erste Ebene die der bedeutungsleeren Elemente und die zweite die der bedeutungstragenden).


Lévi-Strauss möchte zweierlei zeigen. Erstens, daß die Strukturen der Sprache den Strukturen des Denkens entsprechen (und umgekehrt); des weiteren, daß jene Strukturen, die zuerst Linguisten ins Licht gerückt haben, universaler Natur sind. Trifft dies zu, steht ALLES in differentiellen, binären, oppositiven, reziproken Verhältnissen zueinander – vom neuronalen Netz, dem Gen-Code, den Enzymen, Proteinen, Molekülen, Atomen bis hinauf zu den Bedeutungen dessen, was der Mensch kulturell hervorbringt.


Was folgt daraus für die Musik (die sublimste Hervorbringung des menschlichen Geistes)? Lévi-Strauss unterscheidet, Martinets doppelte Artikulation auf die Musik übertragend, zwei Stufen: die des Grundmaterials einerseits (die Stufe der einzelnen Töne) und jene Ebene andrerseits, auf der das Grundmaterial so kombiniert wird (auf der einzelne Töne so kombiniert werden), daß (etwas mit) Bedeutung entsteht. Analog zur linguistischen Bezeichnung der kleinsten Sprachelemente als Phoneme bezeichnet Lévi-Strauss die Einzeltöne in der Musik als Soneme. Hier beginnen gleich die Schwierigkeiten. Denn während in der gesprochenen Sprache die nächsthöhere Stufe die des Wortes sei, besitze Musik, so Lévi-Strauss, keine Entsprechung zum Wort. Die zweite Ebene der Musik, die der Melodie, entspreche vielmehr der Satz-Ebene. Während in gesprochener Sprache die Reihenfolge Phonem–Wort–Satz gelte, bestehe Musik nur aus den beiden Ebenen Sonem–Melodie, ohne eine Entsprechung für Wörter aufzuweisen. Nehmen wir den Mythos hinzu, ergibt sich folgende Gegenüberstellung:


Sprache:

Phonem – Wort – Satz


Musik:

Sonem – ? – Melodie


Mythos:

? – Mythem – Satz


Verglichen mit der sozusagen vollständigen Wortsprache, die über drei strukturelle Ebenen verfügt, weisen Musik und Mythos also nur zwei auf. Wenn wir mit Lévi-Strauss die Wortsprache phylogenetisch als primär auffassen, können wir sagen, daß in der Musik die (andernfalls vom Wort transportierte) Bedeutung zugunsten des rein Tonhaften bzw. Lautlichen des Materials ganz in den Hintergrund gedrängt wurde, während im Mythos von Anfang an die (vom Wort transportierte) Bedeutung dominiert, so daß es hier keine strukturellen Elemente gibt, die gleichsam jenseits von Bedeutung liegen. (Um Mißverständnisse zu vermeiden: Natürlich bestehen die einzelnen Wörter, aus denen Mytheme sich zusammensetzen, aus Phonemen. Was Lévi-Strauss meint und worauf er abhebt, ist, daß das Grundmaterial des Mythos, das, was als Mythem der Erzählung zugrunde liegt, bereits Bedeutung trägt und nicht wie in der Sprache als solcher und wie in der Musik bedeutungsleer ist. In diesem Sinne fehlt dem Mythos das strukturelle Äquivalent zur Phonem-Ebene.)


Was die Musik angeht: Trifft zu, daß sie kein strukturelles Pendant zur Wort-Ebene kennt? Oder existiert etwas, das zwischen Einzelton und Melodie liegt? Was ein Einzelton ist, ist klar. Aber was ist eine Melodie? (Die Begriffe Melodie und Thema sind in diesem Zusammenhang synonym). Knapp gesagt ist eine Melodie eine selbständige, melodisch wie rhythmisch festgelegte Tonfolge bzw. -bewegung, eine rhythmisierte Verbindung oder Verknüpfung von Einzeltönen, die eine Einheit darstellen. Freilich: Eine Melodie kann in kleinere Einheiten zerlegt werden, die aus mehr als einem Einzelton bestehen: in Motive. Die Musikwissenschaft definiert Motiv (gemeinhin) als kleinste sinnvolle musikalische Einheit. Folglich entspräche das Motiv dem Wort. Welche Gründe könnte Lévi-Strauss haben, sich dieser Definition nicht anzuschließen?


Wörter sind strukturelle Einheiten, deren (semantische) Bedeutung innerhalb einer bestimmten Lexik gegeben ist. Ein Wort wird nicht dadurch zu einem Wort, daß es erst auf dem Hintergrund größerer sprachlichen Einheiten a posteriori durch Induktion als Wort erkannt wird. Wir erkennen Wörter als Wörter, weil wir, nicht immer, aber in aller Regel, a priori wissen, daß es sich um Wörter handelt. Ein Wort erhält seinen Eigenwert bzw. seine Bestimmung als strukturelle (semantische) Einheit nicht dadurch, daß wir es nachträglich in seiner Bestimmung oder Eigenschaft als Wort erfassen. Im Gegenteil: A priori ist ein Wort eine in sich stabile Einheit, die ebendeshalb auch verschiebbar, herauslösbar, ersetzbar ist. Im Gegensatz dazu ist ein Motiv in der Musik eine strukturelle Entität, deren jeweilige Motivizität (oder Thematizität) erst dann deutlich wird, wenn wir ihren jeweiligen musikalische Zusammenhang retentional im Ohr behalten. Eine bestimmte Tonfolge oder -bewegung ist nicht von sich aus ein Motiv (so wie ein Wort gleichsam von sich aus ein Wort und als solches in Wörterbüchern zu finden ist), sondern nur dann, wenn sie im Laufe eines Musikstücks in identischer oder variierter Gestalt wiederkehrt. So gesehen ist ein Motiv nicht die kleinste sinnvolle musikalische Einheit, sondern eher eine strukturelle Eigenschaft bestimmter Tonfolgen/Tonbewegungen, die diese ihre Motivizität in dem Moment erhalten, wo sie, sich wiederholend, den musikalischen Ab- oder Verlauf (mit)prägen. Motive haben, anders als Wörter, außerhalb ihres jeweiligen musikalischen Zusammenhangs keine lexikalisch kodifizierte Bedeutung.


Lévi-Strauss’ Behauptung, daß der Musik ein Pendant zur Wort-Ebene fehle, ist in dem Maße schlüssig, wie die Gleichsetzung von Wort und Motiv problematisch ist. Nicht jede Tonfolge/Tonbewegung ist ein Motiv. Und ein Motiv ist nicht die kleinste bedeutungstragende musikalische Einheit, sondern ein musikalisches Strukturmerkmal, das einer Tonfolge/Tonbewegung zukommt, wenn sie als kompositorisches Bauelement benutzt wird. (Was, mutatis mutandis, der Ebene des Satzes entspräche).


Ob Lévi-Strauss’ Argumentation überzeugen kann, hängt davon ab, wie man Motiv definiert. Auf den ersten, vielleicht auch auf den zweiten Blick scheint einiges dafürzusprechen, Wort und Motiv zu parallelisieren. (Motiv als kleinste sinnvolle musikalische Einheit zu bestimmen, ist, wie gesagt, nicht unüblich). Allerdings gilt auch, daß, strukturell betrachtet, Wort und Motiv verschiedenen Ordnungen angehören. Wörter existieren als selbständige lexikalische Entitäten, ihnen eignet des weiteren eine allgemeine textuelle Wahrscheinlichkeit, eine rekursive lexikalische Iterabilität. (Rekursiv bedeutet, daß man mit einem begrenzten Zeicheninventar unendlich viele Bedeutungen erzeugen kann; Iterabilität meint die unendliche, kontextunabhängige Wiederholbarkeit eines Zeichens). Ein musikalisches Motiv existiert nicht wirklich außerhalb seiner Komposition, sein jeweiliger satztechnischer Fügungswert, seine jeweilige kompositorische Funktion ist die jeweilige Bedingung seiner Möglichkeit (weswegen seine Motivizität für den Hörer nur im retentionalen Zusammenhang erkennbar ist).


Und noch etwas: In der Wortsprache bedingt die Ordnung der Wörter die Ordnung des Satzes, und die Ordnung des Satzes folgt aus der Ordnung der Wörter. Kann man dies, mit den nötigen Änderungen, auf Musik übertragen und sagen, das Motiv bedinge die Melodie, die Melodie resultiere aus dem Motiv? Schwerlich, denn ein Motiv muß nicht zwangsläufig Teil einer Melodie sein, und genausowenig ist eine Melodie immer auch ein Motiv.



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