Claude Lévi-Strauss’ Strukturalismus und Jacques Derridas Dekonstruktion im philosophiegeschichtlichen Kontext (2011)
Philosophisches Parteigebrause ist so alt wie die Philosophie. Bereits Heraklit beschuldigte seine philosophischen Konkurrenten der leeren Vielwisserei (Polymathie) und des arglistigen Schwindels (Kakotechnie). Im Hinundher der Standpunkte liegt nichts Verächtliches. Besondere Aufmerksamkeit verdient es jedoch nur, wenn es nicht um Schul-Egoismen geht, sondern ums Ganze: um jeweils epochale Transformationen – von der antiken zur mittelalterlichen Lebensauffassung, vom mittelalterlich-christlichen zum neuzeitlichen Weltbild, vom neuzeitlichen zum modernen Denken.
Jede dieser Epochen ist vielgestaltig – und zugleich in sich eine Totalität. Die Weltauffassung der Antike ist objektivistisch, die mittelalterliche symbolistisch, die neuzeitliche subjektivistisch, die moderne funktionalistisch. Antike, Mittelalter und Neuzeit bilden darüber hinaus, weil die Denk- und Bewußtseinsformen sich aus der materiellen Praxis herauskristallisieren, eine gemeinsame historische Formation. Von den Anfängen des okzidentalen Logos bis zum Ende der Neuzeit bestand der materielle Produktionsprozeß darin, Natur zu bearbeiten, ohne neue Stoffe hervorzubringen. Dies geschah nichtmaschinell in Form menschlicher Arbeit, erst handwerklich, später manufakturiell. Ganz anders in der Moderne. An die Stelle der unter ihrer ursprünglichen Produzentin Natur verstandenen menschlichen Produktivität tritt die industrielle, maschinell-automatische Reproduktivität, die „es nicht mit der Änderung der Formen [der Stoffe] bewenden läßt, sondern in die Stofflichkeit selbst der Dinge eingreift [und im Laufe dieses Prozesses] Produkt und Produzenten so einander entfremdet, daß dieser sich nicht nur des Produkts, sondern noch der Produktion selbst enteignet findet“. (Claus-Artur Scheier: Ästhetik der Simulation, Hamburg 2000, S. 24 u. 46)
Funktionalistisch ist die Moderne also einerseits, weil die Individuen auf der Ebene ihres materiellen Seins zu lebendigen Anhängseln der Maschinerie oder Technik werden. „In Manufaktur und Handwerk“, so Karl Marx im ersten Band des Kapitals (1867), „bedient sich der Arbeiter des Werkzeugs, in der Fabrik dient er der Maschine. Dort geht von ihm die Bewegung des Arbeitsmittels aus, dessen Bewegung er hier zu folgen hat. In der Manufaktur bilden die Arbeiter Glieder eines lebendigen Mechanismus. In der Fabrik existirt ein todter Mechanismus unabhängig von ihnen, und sie werden ihm als lebendige Anhängsel einverleibt.“ (Marx: Das Kapital, Bd. 1, MEGA II, Bd. II/5, Berlin 1983, S. 347) Des weiteren existieren in der Moderne erkenntnistheoretisch, sub specie des inneren Bewußtseins, Subjekt und Objekt nicht mehr als metaphysische Substanzen, sondern nurmehr auf einer relationalen Ebene. Das erkennende Bewußtsein zerfällt, wie Artur Schopenhauer 1813 notiert, in eine „äußere und innere Sinnlichkeit (Receptivität), [als] Verstand und Vernunft auftretend, in Subjekt und Objekt, und [es] enthält nichts außerdem. Objekt für das Subjekt seyn, und unsere Vorstellung seyn, ist das Selbe. Alle unsere Vorstellungen sind Objekte des Subjekts, und alle Objekte des Subjekts sind unsere Vorstellungen.“ (Schopenhauer: Ueber die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde, in: Werke, Bd. 5, Zürich 1977, S. 7–177; ebd., S. 41) Gut sechzig Jahre später ergänzt Ernst Mach, man müsse „den Ursachenbegriff durch den mathematischen Funktionsbegriff ersetzen: Abhängigkeiten der Erscheinungen voneinander, genauer: Abhängigkeiten der Merkmale der Erscheinungen voneinander. Alle genau und klar erkannten Abhängigkeiten lassen sich als gegenseitige Simultanbeziehung ansehen.“ (E. Mach: Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen, Jena 1922, S. 74 f.)
Im materiellen Lebensprozeß wie in den mentalen Erkenntnisvorgängen: nichts als funktionale Abhängigkeiten und Relationen. Aber mit einem Unterschied. Im materiellen Lebensprozeß folgen diese Abhängigkeiten und Relationen aus den gesellschaftlichen Produktionsverhältnissen, die, weil sie historisch sind, sich verändern (lassen). In der Moderne ist der Produzent von seinem Produkt deswegen entfremdet, weil den Individuen die „vervielfachte Produktionskraft nicht als ihre eigne, vereinte Macht, sondern als eine fremde, außer ihnen stehende Gewalt [erscheint], von der sie nicht wissen woher und wohin, die sie also nicht mehr beherrschen können, die im Gegenteil nun eine eigentümliche, vom Wollen und Laufen der Menschen unabhängige, ja dies Wollen und Laufen erst dirigierende Reihenfolge von Phasen und Entwicklungsstufen durchläuft.“ (K. Marx/Friedrich Engels: Die deutsche Ideologie, in: MEW, Bd. 3, Berlin 1962, S. 13–539; ebd., S. 34) Was hingegen die intramentale Struktur unserer Erkenntnisvorgänge betrifft, so scheinen Erkenntnissubjekt und Erkenntnisobjekt tatsächlich unhintergehbar voneinander getrennt zu sein, insofern ihre einzige Verbindung das subjektive Vermögen des Bewußtseins ist, sich intentional auf etwas zu beziehen. Und doch folgt daraus nicht, daß Denken und Wirklichkeit auseinanderfallen, daß der Mensch, wie Schopenhauer es formuliert, keine Sonne und keine Erde kennt, sondern nur ein Auge, das eine Sonne sieht, und nur eine Hand, die eine Erde fühlt. Wenn das Gehirn der Sitz unserer Erkenntnisvorgänge ist, läßt sich mit einiger Sicherheit darauf rechnen, daß Erkenntnis- und Realkategorien in dem Maße übereinstimmen, wie das Gehirn ein Produkt der biologischen Evolution ist. Von jeher bewirken Mutation und Selektion, daß die Erkenntniskategorien sich den Realkategorien anpassen.
Das moderne Denken, bzw. das Denken der Moderne, steht vor zwei Problemen. Zum einen vor der Schwierigkeit, die gesellschaftlichen Bewußtseinsformen auf die materielle Basis der Gesellschaft zurückzuführen. Zum anderen ist es mit der erkenntnistheoretischen Möglichkeit konfrontiert, daß die Polarität von Sein und Bewußtsein unüberbrückbar und das subjektive „Ich sich nicht durch und intim, gleichsam durchleuchtet, sondern opak [ist] und daher sich selber ein Räthsel [bleibt].“ (Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung I, in: Werke, Bd. 3, Zürich 1977, S. 230) Beide Probleme setzen einander nicht voraus, gehören aber insoweit zusammen, als ihr doppelter Schnittpunkt zum einen in der Leiblichkeit des Menschen und zum anderen in dessen Sinn zur Sprache liegt. Leib(lichkeit) und Sprache sind die Grundkategorien der modernen Philosophie (der Philosophie der Moderne). Was bedeutet, daß hier zwei philosophische Wege offenstehen. Der erste Weg ist, den Menschen sub specie seiner materiellen, notwendigerweise leiblichen Existenz zu betrachten. Der zweite Weg führt ins Haus der Sprache, das, um im Bild zu bleiben, statt Fenster und Türen Spiegel hat und seinen Bewohnern, so daß sie niemals einen Blick auf ein Außerhalb erhaschen können, die Sprache als Grenze ihrer Welterfahrung reflektiert (Jacques Derridas berühmtes il n’y a pas de hors-texte [Text im Sinne von Sprachfeld]).
Während zu Beginn der modernen Philosophie (der Philosophie der Moderne) Ludwig Feuerbach den ersten Weg eröffnet und Schopenhauer den zweiten bahnt, sind es eineinhalb Jahrhunderte später Claude Lévi-Strauss’ anthropologischer Strukturalismus und Derridas im eigentlichen Wortsinn meta-physische Dekonstruktion, die diesen Doppelcharakter aufs prägnanteste bestätigen. Lévi-Strauss’ chiasmatischer Universalismus und Derridas isolationistischer Textualismus repräsentieren die zwei Enden des modernen Denkens (des Denkens der Moderne). Das Weltlichwerden des Logos und die Materialisierung der Philosophie (Lévi-Strauss) stehen gegen eine Entweltlichung der Philosophie und eine Textualisierung der Welt im Zeichen der Zeichen (Derrida).
Lévi-Strauss’ so oft falsch verstandener materialistischer Strukturalismus/strukturalistischer Materialismus verschwindet so gut wie immer hinter seiner Rezeption. Weder huldigt er einer a-historischen Algebra, noch läuft er, wie Derrida behauptet, auf eine proto-dekonstruktivistische Selbstzersetzung hinaus. Sein Ziel und Zweck ist es aufzuzeigen, wie die logische Syntax europäischer und außereuropäischer Logoi und Logiken einer universalen Struktur entspringt, deren Einheit und Zusammenhang – und darauf kommt es an – in der materiellen Basis zu entdecken ist. Lévi-Strauss findet, während er den Logos im Mythos sucht, die Physis im Logos. Oder anders gesagt: Die funktionale Relation zwischen Signifikant/Bezeichnendem und Signifikat/Bezeichnetem, die jedem Logos und also auch der Subjekt-Objekt-Logik zugrunde liegt, ist das Produkt einer materiellen, notwendigerweise leiblichen Einheit von Welt und Bewußtsein. Mit Derrida zu fragen, ob Lévi-Strauss’ Logoanalyse außereuropäischer Bedeutungssysteme sich in Widersprüche verwickelt, ist nicht sehr fruchtbar. (Sie tut dies meines Erachtens nicht). Lévi-Strauss’ Strukturalismus ist exzeptionell, weil es ihm gelingt, jenen beiden Problemen des modernen Denkens (des Denkens der Moderne) durch einen Schwenk ins Außereuropäische beizukommen. Klar jedenfalls ist, daß die Wahrheits- und Geltungsansprüche sowohl des Lévi-Straussschen Strukturalismus wie der Derridaschen Dekonstruktion sich nicht zuletzt im Hinblick auf außereuropäische Logoi und Logiken einlösen lassen müssen. Strukturalismus wie Dekonstruktion bestehen ihre Probe in der Begegnung mit dem scheinbar oder tatsächlich Fremden.