Mahler

Gustav Mahler


Mahler-Stolpersteine (2011)


Die Zeichen sind durchaus auf das Subtilste zu beobachten. 

Gustav Mahler (1900)


Das Kriterium ist nun beileibe nicht nur die bloße subjektive Meinung eines Mahler-Hörers und -Lesers; es ist – soll ich sagen ›ganz einfach‹? – das Kriterium der Partitur und ihrer präzisen aufgezeichneten Ansprüche. Sie lehren eindrucksvoll, mit welcher Genauigkeit Mahlers Partituren gelesen sein wollen, mit all ihren reichlichen, nie zufälligen, nie überflüssigen Anweisungen und Winken, und wer aus ihnen die Ausdrucksstruktur der Formen ›verstehen‹ lernt, macht nicht selten die bestürzende Erfahrung, daß dann auf einmal nicht nur ›die Stelle‹, sondern das Ganze ›völlig verändert‹ klingt.

Hans Wollschläger, Die Schlamperei der Tradition oder Wie authentisch sind die heutigen Mahler-Aufführungen? (1989)


Gustav Mahler ist einer der letzten Komponisten, deren Musik ohne größere Mühen so gespielt werden kann, daß man ALLES, was in der Partitur steht und hören können sollte, auch zu hören bekommt. Nach Mahler und Strauss entstandene Orchesterwerke machen es Ausführenden wie Zuhörern, der stets komplexer werdenden Harmonik, Instrumentation und Form wegen, immer schwerer, in ihrer ganzen klanglichen Vielfalt realisiert und wahrgenommen zu werden. (Die Hand hebe, wer Schönbergs Gurre-Lieder, Stravinskijs Sacre du printemps, Bergs Drei Orchesterstücke, Ives’ Symphony No. 4, Varèses Amériques o. ä. schon einmal in Aufführungen erlebt hat, die akustisch das vermittelten, was die Partituren angeben und vorschreiben.) Besonders ärgerlich ist ein solcher Mangel an Klarheit vor allem bei Mahler – dessen Werke eine sozusagen verlustlose Realisierung geradezu herausfordern. Grund genug, einmal alle Stellen und Passagen zu verzeichnen, die, aus welchen Gründen immer, selten oder nie gelingen (deren Umsetzung oft oder immer hinter den Maßgaben der Partituren zurückbleibt).


[Anmerkung 2022: In diesem Sinn alle Orchesterwerke Mahlers durchzugehen, war das ursprüngliche Ziel. Zeitknappheit und Mehrfachbelastungen verhinderten dies. Immerhin protokollierte ich Fehlerkataloge für die ersten beiden Symphonien, und vielleicht komme ich noch dazu, den Rest nachzutragen.]


Symphonie Nr. 1


1. Satz


Takt 13: Mahler (im Folgenden: M) notiert ein molto rit., das sich über drei Takte erstreckt, bis ab Takt 16 wieder Tempo I gilt. Dieses molto rit. wird IMMER übersehen – wodurch das wie eine Frage wirkende Oboen-Motiv in Takt 15 flacher wirkt als nötig. Viel stärker wäre der Ausdruck, wenn man den Oboen, wie Ms molto rit. indiziert, die nötige Zeit ließe, den Schwellklang pp – crescendo – Akzent – decrescendo – morendo wirklich auszumusizieren.


Takt 30 f.: Die künstlichen Kuckucks-Rufe setzen sf ein. In aller Regel hört man einen leichten Akzent, eine Art mfp.


Takt 39: Analog zu Takt 15 f. ignorieren Dirigenten für gewöhnlich das molto rit. Dadurch erhält die Fortsetzung der Horn-Melodie einen geradlinigeren Charakter, als sie im Kontext haben sollten – nimmt sie doch vorsichtig aus einer Dissonanz heraus und eben molto rit. Gestalt an.


Takt 88 f.: Die stets unhörbaren Flageolett-Töne der Celli sind p und akzentuiert, stärker also als die pp und zart bleibenden Violinen.


Takt 161: Oft spielen die 1. Violinen bereits das dreigestrichene a als Flageolett – wodurch dem irisierenden viergestrichenen Flageolett-a in Takt 162 die Wirkung genommen wird.


Takt 162 ff.: Die Harfe bleibt mf, während alle anderen ins ppp und pp zurückfallen.


Ziffer 13 (Takt 180 ff.): Diese Stelle – wo die Tuba in der Kontraoktave mit dem F einsetzt und die leisen Schläge der Großen Trommel eine unheilvolle Stimmung erzeugen – sollte im Idealfall den Zuhörern, aber NICHT dem Tubisten den Atem stocken lassen. Nun ist es nicht möglich, das tiefe F ohne Atemholen über dreizehn Takte zu halten. Manchen Tubisten gelingt es, den Klang fast nahtlos hinzuziehen. Sehr viel öfter, nämlich i. d. R., sackt der Ton nach zwei oder drei Takten mürbe in sich zusammen. Das ist, weil die Tuba hier das klangliche Fundament legt, ausgesprochen unschön. Ich beschwöre alle Dirigenten: Man lasse ab Takt 180 entweder zwei Tuben, die sich unhörbar abwechseln, das F intonieren, oder man ersetze sie, was gewiß praktischer ist, durch zwei Kontrafagotte. M selbst notiert: Wenn der Tubist diesen tiefen Ton nicht pp herausbringt, so ist derselbe dem Contrafagott zuzutheilen.


Takt 294 f.: Den Einwurf der Klarinetten wünscht M sich f. Ein Geheimnis, warum das IMMER ignoriert wird.


Takt 331 bis Takt 352: Dies ist eine jener Stellen, die quasi immer mißglücken. Ms Anweisung ist eindeutig: Von hier ab bis zum Zeichen * [Takt 352] unmerklich aber stetig breiter. Warum ist es nicht möglich, diese Takte so zu spielen, wie M es verlangt? Bleibt man stur im Tempo oder beschleunigt sogar (was die Regel ist), versiebt man die ganze Passage und mit ihr den Höhepunkt des Satzes.


2. Satz


Takt 61 ff.: Die satte Quinte Cis-Gis der 3. Posaune und der Tuba ist zunächst sfp markiert, dann fp mit Akzent, sf mit Akzent, schließlich f mit Akzent. Bis zur Stunde ist es keinem Dirigenten gelungen, zwischen diesen Abstufungen ohrenfällig zu differenzieren.


Takt 100 ff.: M fordert von den Bratschen, Celli, Bässen: mit dem Bogen geschlagen. Das muß nicht unbedingt col legno bedeuten, denn dort, wo M col legno-Effekte wünscht, schreibt er auch col legno. Wenn man die Streicher col legno spielen läßt, ist das, Ms ungenauer Spielanweisung wegen, nicht ganz falsch, aber auch nicht ganz richtig.


Takt 219 ff.: Es wäre schön, wenn ein Dirigent den Bratschen einmal auftrüge, die Pizzicati wirklich f zu zupfen.


3. Satz


Takt 23 ff.: Selten ist das Tamtam so präsent, wie es seiner unheimlichen Klangwirkung halber sein sollte.


Takt 38 und passim: Der dritte Satz der Ersten gehört zu den meistmißhandelten. Die berühmt-berüchtigten Klezmer-Stellen werden ein ums andere Mal grob entstellt. Ein erster Fehler ist, daß allermeistens die Klarinetten und Trompeten ab Ziffer 5 den Rhythmus doppelpunktieren. Natürlich verfälschen sie so den Charakter der Melodie. Ganz schändlich wird es dann ab Ziffer 6 (bzw. Takt 57 und Ziffer 15), wo Dirigenten nicht selten im doppelten Tempo lospreschen. M schreibt: Mit Parodie. Nicht Schleppen. Seit wann bedeutet Nicht Schleppen denn Plötzlich viel schneller? M will NICHT, daß das Tempo, sondern NUR, daß die Stimmung sich verändert. Ein weiterer Fehler ist, daß etliche Dirigenten im Mittelteil, den M mit Sehr einfach und schlicht wie eine Volksweise überschreibt, zu einem schnelleren Puls finden. Richtig wäre das Gegenteil. Nicht umsonst notiert M bei Ziffer 13, wo erneut der düstere Kanon einsetzt: Wieder etwas bewegter, wie im Anfang.


Takt 139 ff.: Dies ist die einzige Stelle, wo die Klezmerismen vom Grundtempo abweichen! Erst und allein hier fordert M Plötzlich viel schneller! Man zerstört die emotionale Kurve des Satzes, wenn man jede Klezmer-Passage (viel) schneller nimmt.


Ab Takt 146 notiert M ein Ritardando über drei Takte. Es wird so gut wie nie beachtet.


Takt 161: Das Pizzicato der Bratschen sollte p sein. Warum erklingt es unzähligemal leiser als das ppp der Celli im selben Takt??


4. Satz


Ziffer 6: M notiert Energisch, das heißt: der musikalische Charakter sollte sich verändern. Nicht vielen Dirigenten gelingt es, diesen Umschlag zu verdeutlichen.


Ziffer 51: Analog zum ersten Satz bereitet M den endgültigen Durchbruch vor, indem er das musikalische Geschehen zurückhält und verbreitert. Und analog zum ersten Satz nimmt auch an dieser Stelle fast niemand Notiz davon. Ms Anweisungen sind unmißverständlich: Langsam steigern!, Zurückhaltend, Immer breiter. Erst ab Ziffer 52 gilt: Wieder vorwärts drängend. Eine große Mehrzahl der Dirigenten eilt spätestens genau dort (Takt 617 ff.), wo M zum Immer breiter ermahnt!


Ziffer 56 indiziert den Höhepunkt nicht nur des Finales, sondern der ganzen Symphonie. Neun von zehn Dirigenten gehen ungerührt über diese triumphale Klimax hinweg. Nicht wenige beginnen ab Ziffer 57 zu eilen, was grauenvoll klingt und klar gegen Ms Direktive Nicht eilen verstößt. Daß das Tempo ab Takt 657 (Ziffer 56) zurückgehalten werden sollte, zeigt die Anweisung Von hier an nicht mehr breit in Takt 712 (Ziffer 60).


Symphonie Nr. 2


1. Satz


Takt 18: SEHR selten hört man das akzentuierte, sozusagen giftige c der beiden gestopften Hörner.


Takt 46 f.: Stets werden die sf-Akzente der Streicher ignoriert. So glättet und entschärft man, was bedrohlich klingen sollte.


Takt 62: Daß das es bzw. b der Flöten und Fagotte als halbe Note notiert ist, der Rest aber nur eine punktierte Viertel spielt, sollte hörbar sein.


Takt 81 bzw. 83: Für das Becken (mit Schwammschlägeln) ist zuerst f, dann ff notiert.


Takt 101, 109 u. 110: So gut wie immer werden die scharfkantigen Posaunen-Akkorde gerundet und gesoftet. Erneut: So glättet und entschärft man, was bedrohlich klingen sollte.


Ziffer 14: Warum unterschlägt man so häufig die Auftakt-Glissandi der Violinen?


Takt 304 ff.: M fordert von den Streichern: mit dem Bogen geschlagen. Also col legno? Nicht unbedingt, denn dort, wo M col legno-Effekte wünscht, schreibt er auch col legno. Wenn man die Streicher col legno spielen läßt, ist das, Ms ungenauer Spielanweisung wegen, nicht ganz falsch, aber auch nicht ganz richtig.


Takt 329: Für die Große Trommel ist nicht, wie für die Bratschen, ein ffp notiert, sondern eine ff-Achtel mit anschließendem Akzent auf dem folgenden Wirbel. Erst am Ende Taktes steht ein p. Anstatt sich subito im Diffusen zu verlieren, sollte die Großen Trommel langsam decrescendieren.


Takt 349: Die c-Oktave der Posaunen sollte klangfarblich (mit Dämpfer) eine gewisse stechende Qualität haben. Hat sie meistens nicht.


Takt 420: Das im Idealfall wuchtige, ja gewalttätige ff-Pizzicato der Celli erklingt für gewöhnlich irgendwo zwischen mp und f.


Ziffer 27: Die letzten fünf Takte des ersten Satzes gehören wieder zu jenen Stellen, die regelmäßig mißlingen. In der Partitur steht Tempo I, das heißt, es gilt das Allegro maestoso-Hauptzeitmaß, das M mit Viertel = 84–92 angibt. Das hindert die Mehrzahl der Dirigenten nicht, plötzlich wie von der Tarantel gestochen loszupreschen. Das ist falsch und klingt grotesk.


2. Satz


Ziffer 8: Luftpause!


Takt 187 ff.: Über die von M sehr genau notierten Crescendi und Decrescendi wird für gewöhnlich hinwegmusiziert – wodurch der leicht febrile Charakter der Stelle verlorengeht.


Ziffer 12: Die Pizzicati der 2. Violinen beginnen regelmäßig zu leise – so daß ein Zurückfallen ins dreifache p nicht mehr möglich ist.


Takt 251 ff.: Dasselbe Problem wie ab Takt 187.


3. Satz


Grundsätzlich besteht die Gefahr, den Satz zu schnell zu nehmen. M schreibt: In ruhig fliessender Bewegung.


Ziffer 37: Vorwärts bedeutet NICHT Plötzlich (viel) schneller. Wenn man an dieser Stelle, wie die meisten Dirigenten es tun, das Tempo mehr oder weniger drastisch erhöht, hat man ab Ziffer 40 ein Problem mit der Anweisung Sehr getragen und gesangvoll. Den Hektikern bleibt nichts anderes übrig, als abrupt zu bremsen – wovon in der Partitur nichts steht.


Ziffer 43: Allzuoft wird bereits nach wenigen Takten Tempo I erreicht, doch M notiert das Grundtempo erst wieder ab Ziffer 44.


Ziffer 49: Auch hier gilt NICHT Plötzlich (viel) schneller. Im Gegenteil: Erst ab Takt 459 heißt es Unmerklich drängend.


Ziffer 51: Wie schön es wäre, wenn Dirigenten die gestopften Hörner einmal nicht ignorieren würden.


Takt 529 ff: Dasselbe Problem wie ab Ziffer 43.


4. Satz


Die Altstimme – M dekretiert: durchaus zart – hat laut Partitur zwischen pp und MAXIMAL mf zu bleiben. Warum, um Himmels willen, hält sich niemand daran? Ist es wirklich so schwer, den von M gewünschten zurückgenommenen, volksliedhftaften Ton zu treffen? Was nur rhetorisch gefragt ist. Das opernhafte Gedöns, das einem im Urlicht – und im 5. Satz von beiden Sängerinnen – oft zugemutet wird, ist ein Verbrechen.


5. Satz


Takt 2: Zumindest für Plattenaufnahmen gilt: Bis zur Stunde gelang es keinem Dirigenten (bzw. Aufnahmeteam), dieser Klangeruption gerecht zu werden. Für das Tamtam und die Große Trommel notiert M ff. Was man zu hören bekommt: einen kräftigen, aber keineswegs markerschütternden Hieb aufs Tamtam und eine dumpf-diffuse Große Trommel. Will sagen: Das Finale eruptiert nicht erst im dritten, sondern bereits im zweiten Takt (BEVOR das komplette Orchester einsetzt).


Takt 27 und passim: Nur wenige Dirigenten bemühen sich hier und überhaupt, die koloristischen Nuancen des Tamtams hörbar zu machen. Die Achtlosigkeit, mit der das Schlagzeug häufig behandelt wird, wirkt sich namentlich bei M desaströs aus.


Ziffer 14: Viel zu selten wird das wie ein unaufhaltsam anrollender Tsunami wirkende Crescendo des Schlagzeugs bis zum Letzten, also bis an die Schmerzgrenze, ausgereizt. (Wo, wenn nicht in diesem Satz, wäre es angebrachter, den Hörern das Äußerste an klanglicher Gewalt zuzumuten?)


Takt 247 ff.: Die Triolen-Halben der Stahlstäbe bzw. Glocken sind immer wieder entweder unhörbar oder rhythmisch unpräzise.


Ziffer 22 bis Ziffer 25: Zu den kniffligsten Passagen in Ms Symphonien gehört der Einsatz des Fernorchesters im 5. Satz. Die richtige Balance herzustellen, ist schwer genug, doch Ms Wunsch, die Musik solle sich auch räumlich nähern, ist zumindest im Konzertsaal unerfüllbar. Um so betrüblicher, daß hier, wo die moderne Tontechnik zu exzellieren Gelegenheit hätte, sogar das Gros der Plattenaufnahmen enttäuscht. Regelmäßig verschwindet das Fernorchester spätestens in Takt 378 im Unhörbaren, anstatt die Dynamikstufe und die Präsenz des Hauptorchesters zu erreichen.


Takt 406 ff.: Man beachte doch einmal das tiefe Tamtam.


Takt 417 f.: M notiert weder eine General- oder Luftpause noch eine Zäsur.


Takt 499, 505 u. 507: Für die Pauken schreibt M ein fp. Wohl wegen der p- und pp-Umgebung lassen viele Dirigenten sich dazu verleiten, diese Einsätze stark abzudämpfen.


Takt 731 ff.: Warum gelingt es so selten, den Glockenpart rhythmisch korrekt auszuführen? Nicht selten lassen Dirigenten die Glocken gleich ad libitum spielen. Das zeugt, abgesehen davon, daß es wider den Noten-Text ist, von grober Geschmacklosigkeit.


Takt 752 ff.: Die allerwenigsten Dirigenten bringen es fertig, die Tamtam- und Glocken-Schläge wie notiert erklingen zu lassen. Sehr oft sind die insgesamt 16 Salven sogar unhörbar. Die letzten 13 Takte gehören zu den am meisten mißhandelten Stellen in Ms Werken!


Takt 764: Mahler schreibt scharf abreissen.



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