Musical/isches

Musical/isches


Der deutsche Kopf und das Musical (2013)


Der Deutsche hat keine Finger für nuances...
Friedrich Nietzsche,
Götzen-Dämmerung (1888)


„Seit ich das Musical kenne, liebe ich die Operette“, bemerkt der hochachtbare und nuancenbewußte Dichter Peter Hacks irgendwo in seinen Essais. Als Jazz-Fan und Hobby-Saxophonist hätte er eigentlich wissen können, daß zahllose Broadway- und Tin Pan Alley-Songs dem Jazzstandard-Repertoire zugrunde liegen. Seine Abneigung wider das Musical als Kunstform teilt Hacks mit der Mehrheit des anspruchsvolleren (kontinental)europäischen Publikums – oder genauer: die Abneigung gegen das, was diesseits des Atlantiks unter der Bezeichnung Musical firmiert. Sein hierzulande vergleichsweise schlechter Ruf erklärt sich daraus, daß dieses Genre in der Alten Welt noch immer terra incognita ist.


Das Musical besitzt, wie jedes Genre, eine eigene Formensprache, einen eigenen ästhetischen Zweck. Als Gattung erhält es seine Berechtigung erstens durch einen musikalischen Eklektizismus, der seine Einheit in der jeweiligen Story/Handlung findet. Seit Jerome Kerns Show Boat (1927) waren die „characters and situations, within the limitations of musical comedy license, believable, and the humor came from the situations or the nature of the characters. Kern’s exquisitely flowing melodies were employed to further the action or develop characterization. The integration of song and story is periodically announced as a breakthrough in musical theater.“ (Gerald Bordman: Jerome David Kern: Innovator/Traditionalist, in: The Musical Quarterly, Vol. 71, Nr. 4, New York 1985, S. 470)


Hinzu kommt zweitens der Anspruch, mit Hilfe von popular music eine musikalische bzw. musikdramatische Großform zu schaffen. (Im Vorbeigehn sei daran erinnert, daß die Verwandtschaft zwischen Operette und Musical enger ist, als Hacks erkennt und man vielleicht meint. Operette wie Musical haben ihre Wurzeln in autochthonen Musiktraditionen. Während die Operette, je nach Herkunftsland, sich das französische Vaudeville, die spanische Folklore, das Wiener Singspiel anverwandelte, absorbierte das amerikanische Musical Jazz, Swing, Music-Hall-Songs und -Tänze etc.) Anders als in früheren musik-theatralischen Formen des Entertainments wie Minstrel show und Revue, anders auch als in der sogenannten populären Musik seit den 1940er Jahren, bilden die einzelnen Nummern eine musikalisch-dramaturgische Einheit. (Richtig ist, daß es in der popular music bereits in den 1940er- und 50er-Jahren einzelne concept albums gab: thematisch geschlossene, als Einheit gedachte und realisierte song cycles, etwa von Woody Guthrie, Gordon Jenkins, Frank Sinatra, Nat King Cole. Stil- und genreprägend wurden Konzept-Alben aber erst in den späten 1960er und in den 1970er Jahren.)


Für das, was ihm, seiner künstlerischen Herkunft wegen, an höchstem Ernst und höchster Kunstfertigkeit abgeht, entschädigt das Musical im Idealfall durch Esprit, Eleganz, Eloquenz. Nachweisbar falsch ist die Behauptung, es reüssiere allein im Trivialen. Gleichwohl kann es sich aus zwei Gründen nie von einer gewissen Eingängigkeit lösen. Erstens, weil es seine musikalischen Mittel aus sogenannten U-Quellen schöpft: sich musikalischer Idiome bedient, die im weitesten Sinne volkstümlich sind. Zweitens, weil audience-pleasing manners zu seiner DNA gehören. (Wiederum etwas, das es mit der Operette teilt.) Das führt, wenn Talentlosigkeit und Krämergeist sich die Hand reichen, also meistens, zu wahren Genre-Ausgeburten (megamusicalsjukebox musicals, film-to-musical adaptations). Zitieren wir Stephen Sondheim: „The dumbing down of the country reflects itself on Broadway. The shows get dumber, and the public gets used to them.“ Fallen künstlerische Erfindungsgabe und Gefallanspruch jedoch ineins, ist das Musical, wie jedes andere Genre, leistungsfähig und imstande, einen nur ihm eigenen ästhetischen Zweck zu erfüllen. Hören wir in diesem Zusammenhang Jimmy Webb (Wikipedia, offizielle Webseite):


The theatre buff is likely to be well-educated and inclined to a high literary standard, comparing the work of new lyricists to that of semigods like [Allan Jay] Lerner, [Oscar] Hammerstein, Sondheim, [Lorenz] Hart. / [...] Writer of lyrics for Broadway musicals are specialists in the most precise sense of the word. Their genre has its own discrete and highly complex rules, mores, and customs. Intricate »three-rhymes«, amusing mental tricks made infamous by Larry Hart, have been a regular fixture in the lyrics of Broadway shows, though they rarely – if ever – are found in a pop song. [...] There is a whole category of rhyme that is found almost exclusively in the Broadway genre [...], but definitely off the beaten path in the context of the lowly pop song. (J. Webb: Tunesmith. Inside the Art of Songwriting, New York 1998, S. 59 f.)


Dem deutschen bzw. nicht-englischsprachigen Hörer erwachsen größere Schwierigkeiten. (Beiseitegelassen, daß der typische deutsche Musicalbesucher, weit entfernt, ein theatre buff zu sein, weder ein Ohr noch einen Sinn für die Feinheiten des Genres besitzt.) Leichtigkeit und Anspielungsreichtum gehen in Übersetzungen verloren. Leider kann man Bühnen nicht zwingen, Originalfassungen zu spielen. Leider insofern, als Übersetzungen literarischer Texte ins Deutsche – was auch immer die Gründe sein mögen – sich seit je und bis heute durch Schwerfälligkeit auszeichnen. Wer zum Beispiel deutsche Übersetzungen italienischer Opern-Libretti vergleicht, wird sie in aller Regel, anders als französische oder englische Versionen, unbeholfen finden. Die Bedeutung des Umstandes, daß der Deutsche keine Finger für nuances hat, ist um so größer, je mehr der Reiz von Sujet und Text, wie im Musical, auf sophistication, Pointensicherheit, Tempo beruht. (Ich wiederhole: Jene marktgängige Dutzendware, die die Verächter des Musicals berechtigterweise veranlaßt, herzlich zu spotten, dürfen wir getrost übergehen.) Anders gesagt: Daß der deutsche Kopf sich so wenig darauf versteht, der sophistication des Musicals Genüge zu tun, könnte für das Genre sprechen. Oder noch anders: Daß der deutsche Kopf seine Schlafmütze sogar dann aufbehält, wenn er versucht, die Grazien für sich einzunehmen, spricht gegen ihn. So oder so:


Was sich am schlechtesten aus einer Sprache in die andere übersetzen lässt, ist das tempo ihres Stils. Es giebt ehrlich gemeinte Übersetzungen, die beinahe Fälschungen sind, als unfreiwillige Vergemeinerungen des Originals, bloss weil sein tapferes und lustiges tempo nicht mit übersetzt werden konnte. Der Deutsche ist beinahe des Presto in seiner Sprache unfähig: also, wie man billig schliessen darf, auch vieler der ergötzlichsten und verwegensten nuances des freien, freigeisterischen Gedankens. (Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse, KGW VI.2, S. 42, Berlin/New York 1968)

 

Im folgenden ein Beispiel für die Schwerfälligkeit des deutschen Kopfes.

 

Jason Robert Browns (Wikipedia, offizielle Webseite) tragikomisches Kammerspiel The Last Five Years (2001) erzählt die falling-in-and-out-of-love-Geschichte von Jamie, einem aufstrebenden jüdischen Schriftsteller aus New York, und Cathy, einer eher erfolglosen Schauspielerin mit WASP-Hintergrund. (Die dramaturgische Besonderheit des Stücks liegt darin, daß Cathys Part die Handlung in umgekehrter Reihenfolge wiedergibt: Trennung → erstes Rendezvous, während Jamies Rolle der Chronologie folgt: erstes Rendezvous → Trennung. In der Mitte des Stücks laufen die Stränge kurz zusammen.) Die Herkunft spielt für den Verlauf der Handlung selbst keine Rolle, ist aber wichtig, um glaubhafte Figuren zu schaffen. Die zweite Nummer, Shiksa Goddess, ist eine Jubelarie Jamies, in und mit der er seine ihn überwältigenden Gefühle für Cathy zum Ausdruck bringt. Hier das Original und kursiv jeweils die deutsche Übertragung von Wolfgang Adenberg:


Shiksa Goddess / Meine Göttin

 

I’m breaking my mother’s heart

The longer I stand looking at you

The more I hear it splinter and crack

From ninety miles away


Das trifft meine Mutter hart

Ich laß’ mich mit ner Nicht-Jüdin ein

Das bricht der alten Dame das Herz

Ich kann’s bis hierher hör’n


I’m breaking my mother’s heart

The JCC [Jewish Community Center] of Spring Valley is shaking

And crumbling to the ground

And my grandfather's rolling

Rolling in his grave


Mein Opa rotiert im Grab

Doch selbst wenn ich mit Dir Schluß machen wollte

Ich bin schon zu verliebt

Ganz egal, was Du tust

Ich geb’ Dich nicht mehr her


If you had a tattoo, that wouldn’t matter

If you had a shaved head, that would be cool

If you came from Spain or Japan

Or the back of a van –

Just as long as you’re not from Hebrew school –

I’d say „Now I’m getting somewhere!

I’m finally breaking through!“

I’d say „Hey! Hey! Shiksa goddess!

I’ve been waiting for someone like you“


Hättest Du ein Tattoo, das wäre in Ordnung

Wär’ Dein Schädel rasiert, das wär doch cool

Lebtest Du nur ständig im Suff oder in einem Puff

Oder pinkeltest in den Schwimming-Pool –

All das würd’ ich akzeptieren

Und noch vielmehr dazu

Denn hey, hey meine Göttin

Was ich immer gesucht hab’

Bist Du


I’ve been waiting through

Danica Schwartz and Erica Weiss

And the Handelman twins.

I’ve been waiting through

Heather Greenblatt, Annie Mincus

Karen Pincus and Lisa Katz

And Stacy Rosen, Ellen Kaplan

Julie Silber and Janie Stein

I’ve had Shabbas dinners on Friday nights

With every Shapiro in Washington Heights

But the minute I first met you

I could barely catch my breath

I’ve been standing for days with the phone in my hand

Like an idiot, scared to death

I’ve been wand’ring through the desert!

I’ve been beaten, I’ve been hit!

My people have suffered for thousands of years

And I don’t give a shit!


Hab’s gesucht bei

Angelica [sic] Schwartz und Erica Weiss

Und den Zwillingen Strauss [sic]

Hab’s gesucht bei

Rebecca [sic] Greenblatt, Annie Mincus

Karen Pincus und Lisa Gold [sic].

Und Stacy Rosen, Ellen Kaplan

Julie Silber und Janie Stein

Am Sabbath war ich wohl zum Essen schon

Bei jeder Miss Katz und bei jeder Miss Cohn

Aber als ich Dich gesehn hab’

Blieb mir glatt der Atem weg

Tagelang glotzte ich nur das Telephon an

Starb vor Angst wie der letzte Depp

Ich war ausgesetzt in der Wüste!

Voller Schmerzen, voller Qual!

Mein Volk hat gelitten seit ewiger Zeit

Und es ist mir scheißegal!


And if you had a pierced tongue, that wouldn’t matter

If you once were in jail or you once were a man

If your mother and your brother had „relations“ with each other

And your father was connected to the Gotti clan [eine New Yorker Mafia-Famile]

I’d say, „Well, nobody’s perfect“

It’s tragic but it’s true

I’d say „Hey! Hey! Shiksa goddess!

I’ve been waiting for someone like you“


Wär’ Deine Zunge gepierct, das wäre kein Drama

Kommst Du frisch aus dem Knast oder warst Du ein Mann

Hältst Du heimlich Deine Eltern in zwei Salzsäurebehältern

Um dann Wein daraus zu keltern, den man kaufen kann

Sag’ ich nur: „Hey, nobody is perfect“

Da kenn’ ich kein Tabu

Ich sag’: „Hey, hey meine Göttin,

Was ich immer gewollt hab’, bist Du.“


You, breaking the circle,

You, taking the light.

You, you are the story

I should write –

I have to write!

 

Du bist die Erleuchtung,

Du bist, was ich such’

Du bist die Geschichte

Für mein Buch –

Mein großes Buch!


If you drove an R.V. [recreational vehicle = Wohnmobil], that wouldn't matter!

If you like to drink blood, I think it’s cute

If you’ve got a powerful connection to your firearm collection

I’d say, „Draw a bead and shoot!“

I’m your Hebrew slave, at your service!

Just tell me what to do!

I say, Hey hey hey hey!

I’ve been waiting for someone,

I’ve been praying for someone,

I think that I could be in love with someone

Like You!


Wenn Du rauchst wie ein Schlot, das wär doch prima!

Du ernährst Dich von Blut? Das find ich süß.

Machst Du auch bei Überfällen Beute oder ballerst gern auf Leute

Dann leg an auf mich und schieß’.

Alles, was Du willst, ich erfüll’ es

Es gibt nichts, was ich nicht tu

Hey, hey, hey!

Was ich immer gesucht hab’

Was ich immer gewollt hab’

Ja, die Vision, in die ich mich verliebt hab’

Bist Du!


Ob und in welchem Maß es angebracht sein könnte, das Setting, das Sujet und die dramatis personae einer Vorlage zu verändern, ist mitunter schwer zu entscheiden. Adenbergs Fassung ist als solche gar nicht schlecht. Und dennoch fehlt ihr, was dem Original sophistication, die ergötzlichsten und verwegensten nuances gibt: ironisches Spiel mit Rollentopoi, clevere references, origineller Humor – der bei Adenberg ins Ordinäre abgleitet –, Eleganz der Diktion. Auch befremdet die Verfälschung der Erzählhaltung. Bei Brown ist es Jamie, der sich Cathy gegenüber öffnet (You, breaking the circle / You, taking the light / You, you are the story / I should write – / I have to write!), während es bei Adenberg eher so erscheint, als ergriffe Jamie von Cathy Besitz. Man kann der deutschen Version nicht absprechen, vergleichsweise schlafmützig zu sein


Die Feststellung, der deutsche Kopf sei im allgemeinen für Subtileres – und für die Kunstform Musical – nicht geschaffen, will natürlich cum grano salis verstanden sein. Die Frage, warum er auch und gerade im Ästhetischen (s)einer Bequemlichkeits-Sucht (Nietzsche) folgt, bleibt indes offen. Daß er selten bis nie seine Schlafmütze abnimmt, ist eine Gewohnheit: eine „durch öftere Wiederholung desselben Tuns entstandene Neigung und Fertigkeit, unter gleicher Veranlassung dasselbe zu tun.“ (Friedrich Kirchner/Carl Michaëlis: Wörterbuch der philosophischen Grundbegriffe, Leipzig 1907, S. 242.) Zu seinen Gewohnheiten gehört auch, hin und wieder Amok zu laufen. Robin Williams erzählte vor einigen Jahren folgende Anekdote:


I was once on a German talk show, and this woman said to me: Mr. Williams, why do you think there is not so much comedy in Germany? And I said: Did you ever think you killed all the funny people? And here’s where it got interesting. She didn’t bat an eyelash. She just went: No. At that point even God is going: Do you get it?


In der Tat. Namentlich zwischen 1933 und 1945 gab der deutsche Kopf sich alle Mühe, jede Regung von Geist und Noblesse auszutilgen. Daß er bis heute Schwierigkeiten hat, die u. a. fürs Musical nötige Leichtigkeit zu erreichen, sollte nicht wirklich überraschen.


(Es gibt Versuche des deutsches Kopfes, sich selbst auf die Sprünge zu helfen. Adenberg etwa ist ein Vertreter der sog. Celler Schule [Wikipedia, offizielle Webseite], einer laut Selbstauskunft „seit 1996 bestehenden Institution, die sich um den deutschen Textdichter-Nachwuchs bemüht. [...] Der Schwerpunkt liegt auf der Arbeit am Text selbst. Das bedeutet: Coaching, Arbeit an konkreten Aufgaben und Nachbesprechungen. [...] Reim- und Metriklehre, Stilkunde und Songdramaturgie stehen ebenso auf unserem Programm wie Methoden zur Blockadenbewältigung, Kreativtraining und das Ergründen der Neigungen, die den Autoren zum Schreiben bringen.“ Klingt gut, oder? Schauen wir, für wen die Leiter dieser Einrichtung, wieder laut Selbstauskunft, bisher zur Feder gegriffen haben: DJ Ötzi, Wolfgang Petry, Patrick Lindner, Schürzenjäger, Helene Fischer, Angelika Milster, Semino Rossi, Die Flippers, Andrea Jürgens, Stefanie Hertel usw. usf. Klingt das immer noch gut?)



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