Was hat die sogenannte postmoderne Philosophie mit der
Banken- und Finanzkrise zu tun? (2012)
A virtual X is something, not an X, which has the efficiency (virtus) of an X.
Charles Sanders Peirce (1902)
Friedrich Nietzsches perspektivistische Philosophie eines freien Spiels aller Kräfte ist
der Prototypus jener oft zu Unrecht als
postmodern
bezeichneten
Diskurse, die in den 1980er Jahren die Hegemonie in den geisteswissenschaftlichen Fakultäten erringen und ihre Hochzeit in den 1990er Jahren haben. Gleichzeitig erfolgt auf dem Gebiet der Ökonomie (mit unvermeidlichen gesamtgesellschaftlichen Auswirkungen) ein Paradigmenwechsel, dessen Hauptmerkmal in der spekulativ-virtuellen
Finanzialisierung
liegt: in der Kapitalverschiebung an Finanzmärkte, wo Kapital und Rendite gewissermaßen umweglos maximiert werden können, nämlich ohne die Notwendigkeit (wie in der Realwirtschaft), zunächst Waren zu produzieren und zu distribuieren oder Dienstleistungen anzubieten.
Wenn zutrifft, daß in einer Epoche immer eine übergreifende Gesamttendenz wirkt: Worin liegt das Gemeinsame des sogenannten postmodernen Denkens und des Finanzmarkt-Kapitalismus? Das Grundkennzeichen des philosophischen Postmodernismus ist die Überzeugung, daß das, was wir Welt oder Wirklichkeit nennen, keine innere Einheit und Logik habe und nur als Effekt unseres Sprechens und Schreibens greifbar sei, kurz: daß es prinzipiell Referenz nur als semiotische Illusion gebe. Das postmoderne Denken zertrennt das Band zwischen Welt/Wirklichkeit einerseits, Sprache/Denken andrerseits. Es ist idealistisch, da es voraussetzt, die menschliche Erkenntnisentwicklung erschöpfe sich darin, Welt/Wirklichkeit durch Sprache im allgemeinen und durch Diskurse im besonderen zu erschaffen und zu erzeugen. Der Ahnherr solcher Überlegungen ist, wie gesagt, Nietzsche. In der Fröhlichen Wissenschaft (1882/1887) heißt es:
Der Ruf, Name und Anschein, die Geltung, das übliche Maass und Gewicht eines Dinges ist durch den Glauben daran und sein Fortwachsen von Geschlecht zu Geschlecht dem Dinge allmählich gleichsam an- und eingewachsen und zu seinem Leibe selber geworden: der Schein von Anbeginn wird zuletzt fast immer zum Wesen und wirkt als Wesen! [...]
Es genügt, neue Namen und Schätzungen und Wahrscheinlichkeiten zu schaffen, um auf die Länge hin neue »Dinge« zu schaffen. (Die fröhliche Wissenschaft, in:
Kritische Gesamtausgabe, Abt. 5, Bd. 2, S. 13–320; ebd., S. 98)
Die postmoderne Philosophie der 1970er bis 2000er Jahre ist nichts als eine elaborierte Variation oder Fortsetzung dieser Onto-Semiotik oder Semio-Ontologie.
Ein Schlüsselwort des postmodernen Denkens ist Virtualität. Erste Triumphe feiert es in der Moderne bei Stéphane Mallarmé auf dem Hintergrund einer symbolistischen Poetologie. In Crise de vers (Vers-Krise, 1896) zielt Mallarmé auf eine von allen Wirklichkeitsspuren gereinigte Wortkunst, als deren Palladium die Autopoiesis der Sprache erscheint. Weniger gelehrt: Der Dichter möge keine innere oder äußere Wirklichkeit abbilden, sondern nur mehr die Sprache selbst sprechen lassen:
L’œuvre pure implique la disparition élocutoire du poëte, qui cède l’initiative aux mots, par le heurt de leur inégalité mobilisés; ils s’allument de reflets réciproques comme une virtuelle traînée de feux sur des pierreries, remplaçant la respiration perceptible en l’ancien souffle lyrique ou la direction personnelle enthousiaste de la phrase. […]
Au contraire d’une fonction de numéraire facile et représentatif, comme le traite d’abord la foule, le dire, avant tout, rêve et chant, retrouve chez le Poëte, par nécessité constitutive d’un art consacré aux fictions, sa virtualité.
(Divagations, Paris 1897, S. 246 u. S. 251)
Das reine Werk impliziert das beredte Verschwinden des Dichters, der die Initiative den Worten überlässt, die durch den Zusammenprall ihrer Ungleichheit in Bewegung gesetzt werden. Sie entzünden sich durch ihren wechselseitigen Widerschein wie eine virtuelle Feuerspur auf Edelsteinen und ersetzen so den im alten lyrischen Odem spürbaren Atem oder die ureigene enthusiastische Gestaltung des Satzes. [...] Im Gegensatz zu einer einfachen und repräsentativen Bargeld-Funktion – wie es ursprünglich von der Menge behandelt wird –, rekuperiert das dichterische Wort, vor allem Traum und Gesang, seine Virtualität als konstitutive Notwendigkeit einer Kunst, die Fiktionen gewidmet ist.
Daß Mallarmés Poetologie und der französische Symbolismus mit dem Ziel, die Dichtkunst zu entwirklichen bzw. zu virtualisieren, in einer Zeit entstehen, da die Pariser Börse das Zentrum der Finanzspekulation ist, ist kein Zufall. Man beachte Mallarmés Formulierung von der „einfachen und repräsentativen Bargeld-Funktion“ der Wörter, die in der Poesie einer referenz- und endlosen Selbstreproduktion der Sprache weichen möge. Geld erhält seinen Wert durch seinen Äquivalenzcharakter: Es verweist nicht auf sich selbst, sondern auf Güter und Dienstleistungen, gegen die es getauscht werden kann. Ganz analog in der Sprache die Wörter: Sie verweisen nicht auf sich selbst, sondern auf Dinge und Sachverhalte, für die sie stehen. Was im späten 19. Jahrhundert und namentlich an der Pariser Börse geschieht, ist, daß Geld nach und nach seinen Äquivalenzcharakter verliert und zu virtuellem Spielgeld wird. In Form des Terminhandels entwickelt sich die moderne Börsenspekulation. Im Mittelpunkt steht nicht mehr, wie an der Warenbörse, das Geschäft mit physischen Gütern, sondern die Wette auf Preisentwicklungen und Kursverläufe. Geld wird virtuell in dem Maß, wie erstens der Kontraktwert eines Terminhandels nicht zu 100%, sondern nur zu 5% gedeckt sein muß, und zweitens das Geld selbst zu einer Ware wird, zu einem nur sich selbst repräsentierenden Gut. So wie in der Poesie des späten 19. Jahrhunderts die Wörter ihren Stellvertretercharakter verlieren, um als semiotische Virtualitäten nur noch auf sich selbst zu verweisen, so verliert in der sich virtualisierenden Spekulation des späten 19. Jahrhunderts das Geld seinen Stellvertretercharakter, um nur noch, unabhängig von physischen Warenströmen, sich selbst hervorzubringen.
(Nebenbei: Daß das Bewußtsein dem Sein folgt, läßt sich auch daran erkennen, daß bereits vierzehn Jahre vor Mallarmés Vers-Krise die virtuelle Geldspekulation zu einer ersten Börsenkrise geführt hatte. Im Januar 1882 fielen an der Pariser Börse die Aktienkurse ins Bodenlose. Die Ursache lag in der virtuellen (Über)Kapitalisierung der Bank Union générale. Da deren scheinbar exorbitanter Wert nur auf dem Papier existierte, war es allein eine Frage der Zeit, bis sie ihren Zahlungsverpflichtungen nicht mehr nachkommen konnte. Eine Kettenreaktion folgte, die Frankreichs Ökonomie in die Knie zwang.)
Je mehr im 20. Jahrhundert die Möglichkeiten zunahmen, Spekulationsprofite zu erzielen, desto weniger spielte der Äquivalenzcharakter des Geldes eine Rolle. (Die in diesem Zusammenhang beliebte Unterscheidung von guter kapitalistischer Realwirtschaft und schlechter kapitalistischer Spekulation führt in die Irre. Das Problem liegt im kapitalistischen System selbst.) Ihre vorläufige Apotheose findet diese Entwicklung in den hedge funds, deren Hauptinstrumente Finanzderivate und Leerverkäufe sind. (Derivate sind Wettpapiere, deren Gegenstand die Wertentwicklung von Aktien, Anleihen, Devisen, Rohstoffen oder Zinsen ist. Die Pointe: Man spekuliert mit Dingen, die man weder hat noch überhaupt haben will. Leerverkäufe sind Verkäufe nur geliehener Wertpapiere, die zu einem späteren Zeitpunkt tatsächlich erworben werden, um sie dem Verleiher zurückzugeben. Auch hier ausschließlich virtuelle Transaktionen.) 2011 betrug das Weltbruttosozialprodukt aller Güter und Dienstleistungen 70 Billionen USD, während die Summe aller Finanzmarkt-Produkte (Aktien, Anleihen, Devisen- und Derivatgeschäfte) bei sagenhaften 1800 Billionen USD lag.
Entscheidend ist: Die Hausse des postmodernen Denkens verläuft parallel zur neoliberalen Hausse der Finanzmärkte. Die Selbstreferentialisierung der postmodernen Philosophie verläuft parallel zur Selbstreferentialisierung der Ökonomie. Denken und Ökonomie verlieren ihren Halt in der nichtvirtuellen Wirklichkeit und laufen Gefahr, im Schattenreich der Virtualität zu verschwinden. Es handelt sich um zwei Momente einer Gesamttendenz. Wenn die Ökonomie, wie es bei Max Horkheimer heißt, die erste Ursache allen Elends ist, dann hat Philosophie nicht zuletzt die Aufgabe, hierauf ihr kritisches Vermögen zu richten. Um so betrüblicher, wenn sie sich des Anspruchs begibt, diesen Gesamtzusammenhang zu reflektieren. Genau das tut die postmoderne Philosophie. Sie verneint, daß es möglich sei, aufs Ganze zu blicken. Erinnert sei an die von Jean-François Lyotard ausgemachte crise des récits: die Krise sogenannter Meta-Erzählungen „wie der Dialektik des Geistes, der Hermeneutik des Sinns, der Emanzipation des vernünftigen oder arbeitenden Subjektes“. (Lyotard: Das postmoderne Wissen, Wien 1986, S. 13) An deren Stelle möge ein patchwork des minorités treten, also der Versuch, dieser Krise zu begegnen, indem man auseinanderreißt, was im Kapitalismus ohnehin im Zerfall begriffen ist. Das postmoderne Denken tauscht das im Spätkapitalismus unheimlich gewordene Ganze gegen ein persönliches Nirvana des Erkenntnisverzichts.
In dem Augenblick, wo das postmoderne Denken, um Jean Baudrillard zu zitieren, la Grande Virtualité beschwört, besiegelt es seinen Abschied von der Welt. Wenn Virtualität DAS Kennzeichen des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts sein sollte und also „die Welt als Illusion in ihrem technischen Artefakt verschwindet“ (Baudrillard: Die Illusion und die Virtualität, Wabern-Bern 1994, S. 26), käme man nicht umhin, in der spekulativ-virtuellen Ökonomie der Finanzmärkte DEN Ausdruck dieser Zeit zu erkennen. Mehr noch: Wenn es tatsächlich so sein sollte, daß DAS Merkmal unserer Epoche der Verlust der Referenz und des Realen ist, dann wäre die spekulativ-virtuelle Ökonomie der Finanzmärkte insofern, als es mit ihr einen Weg gefunden hat, den Grenzen des Realen zu entkommen, der bisher höchste Ausdruck des menschlichen Denkens.