Interview mit Prof. Dr. Dr. Claus-Artur Scheier (2009)
Marcus Dick: Auf die Gefahr hin, schmeichlerisch zu wirken: Ihre Kenntnis der Philosophiegeschichte von den Vorsokratikern bis Derrida ist exorbitant. War das, als Sie am Anfang Ihrer Laufbahn standen, das erklärte Ziel? Oder ist dieses Wissen einfach das Produkt unermüdlicher Lektüre? Sind Sie dabei, so oder so, chronologisch vorgegangen oder war zuerst ein systematisches Interesse da, das sich dann zwangsläufig auf bestimmte Denker gerichtet hat?
Claus-Artur Scheier: Ich war zur Zeit meines Medizinstudiums an einige klassische Texte geraten, Aristoteles’ Metaphysik, Thomas’ De ente et essentia, Kants Kritik der reinen Vernunft, die ich nicht verstand und die mich faszinierten. Ich hatte das Gefühl, es ginge da ins Äußerste. Später lernte ich von Heribert Boeder, daß man diese Texte in epochalen Kontexten nachvollziehen könne, und das brachte mich dann auf den Weg, nun, wenn man will: systematischer Ergänzung.
MD: Sie haben zunächst Medizin studiert, dann Philosophie. Was hat Sie von der Medizin weg- und zur Philosophie hingeführt? Ähneln beide Disziplinen sich in gewisser Weise. Falls ja: In welcher Hinsicht?
CAS: Zur Medizin bin ich durch meine naturkundlichen Interessen, durch die Bekanntschaft mit interessanten Ärzten, nicht zuletzt durch meine Primanerlektüre Nietzsches gekommen. Leib und Zeit…
MD: Man sagt, in post-modernen Zeiten sei die Möglichkeit, einen Gesamtblick anzustreben, dahin. Nicht zuletzt Ihre Studien zeigen, dies ist nicht richtig. Welche Bedeutung hat der Blick aufs Ganze? Daran anschließend: Ist es nur dann möglich, eine tragfähig-tiefe Philosophie hervorzubringen, wenn man die Geschichte der Philosophie aus dem Effeff kennt? Oder kann man zu einer tragfähig-tiefen Philosophie auch gelangen, indem man den systematischen Pfad benutzt?
CAS: Der Moderne hat sich das klassische Ganze ins Offene verwandelt, das den Entwurf, das Modell fordert. Will man eigens die Offenheit des Offenen bedenken – fruchtbare Fragestellungen sind zweifellos auch ohne dies möglich –, trifft einen der Schlag der Geschichte. Mich hielt und hält die Philosophie in Atem als An-Denken der Welt-Grenzen und so als genetische Definition oder Selbstbeschreibung ihres jeweiligen geschichtlichen Orts. Die Philosophie sei ihre Zeit in Gedanken erfaßt, hat Hegel zu denken gegeben.
MD: Wie gehen Sie vor, um Studierenden einen Einstieg in die Philosophie zu ermöglichen? In welcher Beziehung stehen hier ein eher historisch-philologischer und ein eher systematischer, problemorientierter Ansatz?
CAS: Ich gehe gern von exemplarischen Texten aus, ein paar Anfangssätzen, um, die geschichtliche Brechung eingerechnet, auf den Punkt zu kommen, der jedermann notwendig interessiert – durchaus im Sinn der berühmten Kantschen Fragen.
MD: Worin, denken Sie, besteht die heutige Aufgabe der Philosophie?
CAS: Mit Benns Glasbläser: Erkenne die Lage – oder sieh zu, daß sich uns das U der Welt nicht ins X des Weltlaufs deformiert.
MD: Noch einmal zur Frage der Bedeutung der Philosophiegeschichte. Können uns die maßgebenden Werke der Vergangenheit wirklich helfen, die heutige Welt und Wirklichkeit zu verstehen? Oder sind sie passé als Orientierungshilfen?
CAS: Sie sind passé als Weltmodelle, nicht als Weltmodelle. Als solche sind sie paradigmatisch, zeigen: so wird’s gemacht, so weit mußt du gehen, so kommst du an die Grenze, und sagen: Und nun geh.
MD: Die Philosophie hat es schwer in Zeiten wie diesen. Einige erfolgreiche Philosophien à la mode, Peter Sloterdijks etwa, bestätigen diese Regel. Glauben Sie, daß es noch einmal zu philosophischen Leistungen wird kommen können, die an die großen Leistungen der Vergangenheit heranreichen?
CAS: Alle Achtung beiläufig vor Sloterdijk. Im übrigen: Die Zeiten waren immer wie diese. Man muß nur neu hinschauen, dann schaut die Welt neu zurück. Wem was gelang, darüber mögen die Späteren urteilen. Jetzt haben wir diese Aufgaben.
MD: Wie nehmen Sie die Beziehung der Philosophie zu den sie umgebenden Disziplinen und Diskursen wahr? Hat sie weiterhin gute Gründe, eine privilegierte Sicht der Dinge zu behaupten? Oder ist sie nur noch eine Disziplin unter anderen, ohne besondere Sprengkraft, ohne neue Perspektiven?
CAS: Die Philosophie ist keine, auch keine privilegierte, Sicht der Dinge, sondern ein Erproben der Möglichkeit und der sogenannten Bedingungen der Möglichkeit, von Dingen zu sprechen – läßt die Grenze der Sprache zur Sprache kommen, die Herkunft aller Perspektiven.
MD: Welche inhaltlichen und stilistischen Eigenschaften entscheiden für Sie darüber, ob ein philosophischer Text gut ist?
CAS: Wie bei den großen Epen, von der Ilias bis Gravity’s Rainbow, ist jeder Weltentwurf ein neues Sprachwerk, von Heraklit bis Derrida, die Sprache nicht Medium der Kommunikation, sondern Bau, die Periode, der Satz, das Wort gedacht, gesetzt, durch Analyse beliebig belastbar, ohne zu zerbröseln…
MD: Ein anderes Thema. Sie lieben Musik. Bevorzugen Sie bestimmte Komponisten auch aufgrund außermusikalischer Kriterien? Ich denke etwa an Adornos Sibelius-Verdikt, das ja mehr über Adorno aussagt als über Sibelius. Vielleicht hätte Sibelius’ Musik Adorno gefallen, wenn ihm nicht die Festlegung auf eine bestimmte ästhetische Position, also ein außermusikalischer Grund, das Vergnügen von vornherein verdorben hätte? Vielleicht haben Sie auch ein ästhetisches, außermusikalisches Apriori, von dem Sie sich leiten lassen? Und: Wer sind Ihre Favoriten?
CAS: Adorno, von dem allemal zu lernen ist, konzipierte als Denker der klassischen Moderne notgedrungen eine normative Ästhetik. Von daher ist sein Umgang mit Richard Strauss, Sibelius, Strawinsky usf. so verständlich wie (in unsrer medialen Moderne) obsolet. Ist nun Glück des Hörens ein außermusikalisches Kriterium? Ich liebe Domenico Scarlatti, Mozart, Beethoven, Rossini, Berlioz, Liszt, Brahms, Richard Strauss, Sibelius, Strawinsky, Miles Davis, um nur einige zu nennen.
MD: Eine letzte Frage: Planen Sie noch ein weiteres umfangreiches oder arbeiten Sie bereits an einem weiteren größeren Werk? Gibt es etwas, worüber Sie bis jetzt noch nicht gearbeitet haben, worüber Sie aber gerne arbeiten würden?
CAS: Es geht mir wohl ein wenig wie Boiardo und Ariost: Darauf zu sehen, die alten und die neu sich herbeispinnenden Fäden zusammenzuhalten und an schicklichen Stellen zu verknüpfen – vielleicht unter dem Titel: Aura und Faktizität. Zur Philosophie der Gegenwart?