Spannung

Spannung(en)


Zum Begriff Spannung (2008)


Man wird immer finden, daß zwei Arten von Kräften zusammenwirken. Die einen sind Spannungen, die in dem Gefühl von drängenden und durch das Gegebene nicht erfüllten Bedürfnissen liegen. Die anderen entspringen aus vorwärts drängenden Energien.

Wilhelm Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften (1910)


Bekommen nicht nothwendig die besten Menschen und ihre besten Handlungen etwas Übertriebenes und Verzerrtes, eben weil zu viel Spannung in ihnen ist?

Friedrich Nietzsche, Morgenröthe (1881)


Spannung ist das Gefühl oder das Bewußtsein, sich zwischen verschiedenen quantitativen oder qualitativen Intensitätszuständen zu befinden. Um als solche gespürt oder erkannt zu werden, setzt sie zweierlei voraus: die Wahrnehmung bzw. das Bewußtsein intensiv-zentripetal bzw. extensiv-zentrifugal wirkender Kräfte/Energien (intra- oder extramentalen Ursprungs) und eine unbewußte oder bewußte Erwartung ihrer Aufhebung in eine homöostatische Balance (die immer nur temporär sein kann). Ohne zu spüren oder zu erkennen, sich in einem Spannungszustand zu befinden – Objekt oder Subjekt einer intensiv-zentripetal oder extensiv-zentrifugalen Dynamik zu sein –, und ohne das Bedürfnis oder die Möglichkeit, diese Dynamik zu reduzieren oder aufzulösen/aufzuheben, wird jede Spannung zu einem Normalreiz. Beispiel: Anders als die Zeitgenossen des industriellen Kapitalismus, dessen Klassenspannungen klar zutage lagen und als solche klar empfunden wurden, anders auch als die Akteure des fordistischen Kapitalismus, der diese Spannungen übertüncht, aber nicht zum Verschwinden gebracht hat, nimmt der in den latenten oder offenen ökonomischen Kampf aller gegen alle eingespannte homo neoliberalis die obligatorisch gewordene Unterwerfung unter das Diktat der Waren-Logik i. d. R. nicht (mehr) als Spannungszustand wahr. Er lernt sogar, seine permanente Proskynese in ihr Gegenteil umzudeuten: in eine buchstäblich ent-spannte Geste scheinbarer individueller Souveränität.


Spannung(en) und Homöostase(n) bedingen einander dialektisch. Das aufhebende Moment besteht jeweils in einer unbewußten oder bewußten Orientierungsreaktion, die entweder zu einem spannungsinduzierenden/-steigernden oder spannungsmindernden Verhalten führt. Dieses Verhalten ist ein Maß für Freiheit. Denn: Je bewußter die Spannungen, die uns konstituieren, desto größer, im Rahmen des Menschenmöglichen, unsere Verhaltensspielräume. Beispiel: Je weniger die bis ins Infinitesimale gehenden Polarisierungsenergien des neoliberalen Kapitalismus als Spannungen sich auswirken, je tiefer dessen Profitabilitätsimperativ in Fleisch und Blut übergeht, desto limitierter ist die Freiheit des Selbstausdrucks und der Selbstentfaltung. (Im industriellen und fordistischen Kapitalismus gab es noch Lebensbereiche, in denen dem ökonomischen Regime keine Jurisdiktion zustand. Im Neoliberalismus wird der Ökonomismus ganz und gar zur zweiten Natur.)


Spannung – biologisch, physisch, sozial, politisch, psychisch, philosophisch, ästhetisch etc. – ist die Bedingung der Möglichkeit, Notwendigkeit in Freiheit zu verwandeln. Die Notwendigkeit liegt darin, in irgendeiner Weise auf Spannung(en) zu reagieren. Freiheit ist die Fähigkeit, auf Spannung(en) so zu reagieren, daß ein Mehr an Denk-, Empfindungs-, Seh-, Hör-, Handlungsmöglichkeiten entsteht. Das Medium, worin und wodurch der Mensch diese seine Freiheit aufs nachdrücklichste offenbart, ist die Kunst. In ihr und durch sie antwortet er auf die ihn konstituierende Spannung von Sein und Werden. Kunst ist das Medium, worin und wodurch die Dialektik von Spannung und Ausgleich eine paradigmatische, ästhetische Gestalt annimmt (ästhetisch nicht im Sinne von schön, sondern im Sinne von sinnlich wahrnehmbar). Kunst ist ein Versuch des Menschen, der nur ihm eigenen Freiheit nach außen hin Ausdruck zu geben, indem er die fortwährende Dialektik von Spannung und Ausgleich in ästhetische Formen übersetzt. Jedes Kunstwerk ist zuallererst ein ästhetischer, objektiv gewordener Reflex der Freiheit, Spannungen so zu transformieren, daß dies zu neuen Denk-, Empfindungs-, Seh-, Hör-, Handlungsmöglichkeiten führt. Jedes Kunstwerk ist zuallererst ein Beweis der menschlichen Fähigkeit, Notwendigkeit in Freiheit umzumünzen. Jedes Kunstwerk bzw. jede künstlerische Form verdankt sich dem menschlichen Bedürfnis, der Dialektik von Spannung und Ausgleich auch und nicht zuletzt ästhetisch zu begegnen.


Jedes Kunstwerk bzw. jede künstlerische Form ist ein Ausdruck des Ganzen. Das Ganze ist die menschliche Existenz in ihrer Gespanntheit zwischen Innen und Außen (zwischen intensiv-zentripetalen und extensiv-zentrifugalen wirkenden Kräften/Energien). Der Kreuzpunkt von Innen und Außen (Zentrifugalität und Zentripetalität, Subjektivität und Objektivität usw.) ist der menschliche Leib. Leib und Kunstwerk verbindet, daß sie eine Einheit des Heterogenen oder Mannigfaltigen darstellen. Leib und Kunstwerk besitzen, Maurice Merleau-Ponty zu zitieren, eine Implikationsstruktur, und sie leisten jeweils eine Generalsynthese von Spannungsverhältnissen, die, weil es sich um eine unausgesetzte Dynamik handelt, Sinnüberschüsse produziert. 


Unter den Auspizien der metaphysischen Philosophie galt es, diese Produktion von Sinnüberschüssen zu regulieren. Was u. a. dazu führte, die Spannungszustände des Leibes und die Leiblichkeit von Spannungszuständen zu eskamotieren. In der Moderne erst wurde stets deutlicher, daß immer und überall mindestens zwei Arten von Kräften zusammenwirken, und daß auch Sinn ein Effekt solcher Kräfte- bzw. Spannungsverhältnisse ist (die das Feld des Semiotischen hervorbringen). Anders gesagt: In dem Maße, wie metaphysische Transzendenz implodiert und alle festen eingerosteten Verhältnisse sich auflösen, vergrößern sich die Spannungsmomente, vervielfältigen sich die Spannungsverhältnisse. Nietzsches Ausruf Gott ist tot! stimmt ein auf zweierlei: auf den Wegfall jener vertikalen Spannung zwischen Mensch und Gott, die dem Leben bis dahin einen Sinn gegeben hatte, und auf den Umstand, daß dieser Verlust zahllose neue Spannungen erzeugt. Das 19. Jahrhundert war das Jahrhundert, in dem die Einsicht sich Bahn brach, daß der Mensch – nicht anders als ein Gemälde, ein Musikstück, ein Gedicht usf. – das Resultat von Spannungsbeziehungen ist. Worauf es, wie gesagt, bei alledem ankommt, ist, die menschliche Fähigkeit, Notwendigkeit in Freiheit zu überführen, die Fähigkeit, neue Denk-, Empfindungs-, Seh-, Hör- und Handlungsmöglichkeiten zu erschaffen, immer weiterzuentwickeln, ohne in Widerspruch mit der Wirklichkeit zu geraten.



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