Stiebler


Interview mit Ernstalbrecht Stiebler (2012)


Charakteristisch für Ernstalbrecht Stieblers Musik ist eine radikale Verknappung der Mittel. (Hier ein Beispiel.) Verzögerung statt Atemlosigkeit, Reduktion statt Überfülle, Behutsamkeit statt Brachialität. „Ich finde“, so Stiebler 2002, „daß Musik eigentlich für das Publikum auch eine Anstrengung sein muß, ich möchte beinahe das Wort Zumutung sagen. Man muß da einfach etwas verlangen. Denn was man sich da vorstellt, ist ja auch etwas sehr Spezielles. Und es ist nicht so, daß man den Leuten immer nur Vergnügen machen kann (obwohl ich sehr für das Vergnügen bin). Aber so denken relativ wenige – da ist diese Aversion gegen den alten Elfenbeinturm. Dabei ist [...] der Elfenbeinturm längst überall. Ich denke, jetzt sind wir da, wo jeder eigentlich sehr für sich arbeiten muß, um etwas Richtiges zu machen. Und das kann durchaus auch anstrengend sein, auch für das Publikum.“ (E. Stiebler im Gespräch mit Peter Niklas Wilson, in: MusikTexte, Heft 94, Köln 2002, S. 44–48; ebd., S. 44.)


Marcus Dick: Sie haben viele Jahre als Redakteur für Neue Musik beim Hessischen Rundfunk gearbeitet und sich dort Verdienste insbesondere um die Verbreitung US-amerikanischer Musik und der Werke Giacinto Scelsis erworben. War die Radio-Tätigkeit für den Komponisten Ernstalbrecht Stiebler eher eine Bereicherung oder eher ein Hemmschuh?


Ernstalbrecht Stiebler: Sowohl als auch. Eine Bereicherung war natürlich der unmittelbare Kontakt zu Komponisten und Musikern wie John Cage, Morton Feldman, David Tudor, Frederic Rzewski und La Monte-Young. Darüber hinaus waren die Produktionsmöglichkeiten und die Tätigkeiten im Konzertmanagement bereichernd. Andererseits gab es viel Bürokratie und endlose Sitzungen, im Vergleich zur Hochschule auch viel zu kurze Ferien, nur ca. 30 Tage, und wenig Zeit zum Komponieren. Aber das zentrale Problem: Es gab keine Resonanz, man hatte keine unmittelbare Verbindung zu einem Partner auf der anderen Seite des Radios. Man sendet in ein Loch.


MD: DAS Prinzip Ihrer Musik ist Reduktion. Kann man sagen, daß Sie, indem Sie die musikalischen Mittel radikal be- oder einschränken, einen Mitvollzug des Gehörten ermöglichen wollen im Gegensatz zu einem bloßen Nachvollzug?


ES: Reduktion bedeutet Konzentration, sie steigert die Intensität der musikalischen Botschaft. Ich möchte die Erfahrung von Reduktion als Konzentration auf den Klang, nicht als Zwang, sondern als Chance verstehen, als sanftes Joch, wie es im Yoga heißt. Der bewußte Mitvollzug des Gehörten ist hierbei immer ein Ideal, das der bloße Nachvollzug nicht erreicht. Aber ohne den Nachvollzug, durch das Studium der Musik, ist auch der hörende Mitvollzug fast nie möglich. Die Resonanz zwischen Ego und Hörer ist das Ziel. Worum es geht, ist, den Gegensatz von Empfänger und Sender aufzulösen, aber nicht durch Überredung oder destruktive Anstrengungen des Ego. Es handelt sich auch um eine Art Übung – um vielleicht eine Erfahrung zu machen, die Fähigkeit zur Konzentration zu stärken. Reduktive Musik gibt Raum, eine Chance, sich zu beteiligen. Die Beteiligung des Hörers ist eine Resonanz im weitesten Sinne und im Idealfall ein Mitvollzug des Gehörten.


MD: Sie lehnen die emotionale, affektive Überlastung der Musik und eine Überrumpelung des Hörers ab. Schon Platon meinte, Musik sei gefährlich, weil sie Menschen u. U. überwältigen könne. Wie betrachten Sie das Verhältnis von Ratio und Irratio in der Musik und in Ihrer Musik im besonderen?


ES: Musik ist zu schade, um sie mit Emotionen zu befrachten. Davon abgesehen: Gerade in der Musik gibt es sicher sehr viele Übergänge zwischen Ratio und Irratio. Der Klang mag eine irrationale Wurzel haben, doch bereits mit der Notation beginnt eine rationale Bewältigung, die Weiterentwicklung des Klangs, des Materials, ist fast immer rationalisiert. Ich habe immer systematisch gearbeitet. Der Aspekt der Zahl und damit die Orientierung an Proportionen, das ist für mich sehr wichtig. Allerdings glaube ich, daß meine Musik einen irrationalen Kern hat, der eine besondere Energie vermittelt. Die affektive Überlastung des Hörers würde hier das sensible Wechselspiel von Ratio und Irratio behindern.


MD: Im letzten Band von Prousts Recherche findet sich ein Satz über das Verhältnis von Buch und Leser, den wir ins Musikalische übersetzen können und dann eine Art Überkreuzung von Komponist und Hörer beschreibt: „In Wirklichkeit ist jeder Hörer, wenn er hört, ein Hörer nur seiner selbst. Das Werk des Komponisten ist dabei lediglich eine Art von akustischem Instrument, das der Komponist dem Hörer reicht, damit er erkennen möge, was er in sich selbst vielleicht sonst nicht hätte hören können. Daß der Hörer das, was die Musik aussagt, in sich selber erkennt, ist der Beweis für die Wahrheit eben dieser Musik und umgekehrt.“ Würde Sie dem zustimmen?


ES: Für mich als Hörer, aber eben auch als Komponist mit einer kreativen Klangphantasie, gelten diese abgewandelten Proustschen Worte. Die Überkreuzung von Komponist und Hörer ist ein schönes Bild. Wenn die Musik uns Raum gibt und uns Zeit läßt, bemerken wir, wie sich unsere Wahrnehmung verändert und wie unsere Wahrnehmung die Musik verändert. Der Hörer findet einen Klangraum, wenn der Komponist den Klängen Raum gibt, wenn er dem Klang in sich selbst folgt. Damit der Hörer ein Teil der Musik werden kann, darf sie sich nicht ständig und möglichst komplex verändern. Es geht um eine gegenseitige Berührung von Klangsphären zwischen Innen und Außen, zwischen Sender und Empfänger. Die Chance des reduktiven Komponierens besteht darin, daß Eigenes und Fremdes sich begegnen, ohne daß das Eigene und das Fremde verlorengehen.


MD: Können Sie mehr zum Verhältnis von Fremdem bzw. Außen und Eigenem bzw. Innen sagen?


ES: Der Philosoph Edmund Husserl hat mich mit seiner Philosophie des Leibes sehr berührt, vor allem dort, wo es um den Boden geht, den wir mit der Einsteinschen Relativitätstheorie physikalisch verloren haben, der aber ästhetisch neu geschaffen wird als der Boden, der wie der Leib selbst innen und außen existiert, als Basis des Raumes. Im Tai-Chi heißt es: Der Geist führt. Das meint, daß der innere Raum nach außen dringt. Im Tai-Chi: Das Internal bewegt das External. Das gilt auch für die Musik. Alles wird bestimmt von einer inneren Klangidee. Aus der Perspektive des Außen gilt immer: Weniger ist mehr. Reduktion ist hier das Stichwort, doch ein generelles Prinzip gibt es nicht. Die Kraft der Musik liegt aber darin, das Innen nach außen zu bringen, um wiederum das Innere zu erreichen. 


MD: Zu betonen, daß Musik eine Zeitkunst ist, ist banal. Nicht banal ist es, einen Komponisten zu fragen, welchen Stellenwert die Zeit für seine Kunst hat. Könnte man sagen, daß Sie Zeit musikalisch aufheben wollen?


ES: Aufhebung der Zeit ist ein sehr guter Begriff! Ich brauche die Zeit, um die Zeit aufzuheben. Das ist geradezu ein energetischer Prozeß. Ich habe einmal gesagt, ein Stück von einer Dreiviertelstunde sollte nicht wie eine Viertelstunde wirken, das wäre Zeitvernichtung, sondern eine Viertelstunde sollte wirken wie eine Dreiviertelstunde, die die Aufhebung der Zeit erlebbar macht.


MD: Auf den oberflächlichen Hörer wirkt Ihre Musik vielleicht statisch. In welcher Beziehung sehen Sie Statik und Dynamik?


ES: Der Gegensatz statisch–dynamisch ist wie auch der Gegensatz rational–irrational zu mechanisch. Was meistens als statisch bezeichnet wird, hat im Prinzip nur ein sehr viel langsameres Tempo. Auch die Berge bewegen sich. Gewiß, unser Sensorium signalisiert Statik, aber gerade die Musik kann diese Statik modifizieren. Der äußere und innere Klangraum gehen dann ineinander über. Die Aufhebung dieses Gegensatzes ist ein Akt der Verwirklichung, eine klangliche Durchdringung. Die Aufhebung dieses Gegensatzes kann aber nur in einem Zusammenhang erfaßt werden, und dieser Zusammenhang muß so beschaffen sein, daß er den musikalischen Einzelheiten übergeordnet ist. Daraus ergibt sich Langsamkeit. Die Reduktion, das Sich-auf-wenige-Töne-Beschränken, ist eine Haltung, immer in die Töne hineinzuhören. Ich glaube, daß die ganze Musik eine Tendenz zur Langsamkeit hat.


MD: Seit 1970 notieren Sie Ihre Stücke in Zeilen, wobei jede Zeile eine Einheit darstellt, die Zeilen also wie in einer Gedichtstrophe aufeinanderfolgen. Ist es richtig, daß Sie diese Idee den horizontal gegliederten Bildern Kenneth Nolands verdanken?


ES: Noland hat mich mit der horizontalen Struktur mancher seiner Bilder bestärkt, die Zeile als Basis eines Klangraumes zu verstehen, der sich dann in der Komposition systematisch Zeile für Zeile aufbaut. Das ästhetische Denken des amerikanischen minimalistischen Hard-Edge-Painting hat mich aber eher im Denken beeinflußt, nicht in der Musik selbst.


MD: Von Ihnen gibt es bis auf das Fragment nach van Hoddis (1966) und die Antifonen nach einem Text von Meister Eckart (2003) keine Vertonungen. Zufall oder bewußte Entscheidung?


ES: Vertonungen reizen mich nicht, außerdem habe ich Schwierigkeiten mit dem sogenannten Kunstgesang. Dessen Körperlichkeit geht mir häufig zu weit. Ich liebe mehr instrumentale Stimmen.


MD: 1998 schrieben Sie, Musik müsse heute den Hörern ihr Desinteresse zeigen, aber als Chance einer Öffnung ins Freiere. Sie empfahlen Verdis berühmte Maxime: Torniamo all’antico e sarà un progresso, also: Kehren wir zurück zum Alten, und es wird ein Fortschritt sein. [Vgl. E. Stiebler: Torniamo all’antico: ... , in: Musik-Konzepte, Bd. 100, München 1998, S. 83–87.] Hat Ihre Perspektive sich inzwischen verändert?


ES: Torniamo meint, das Neue im Alten zu finden. Die Musik soll einen nicht bedrängen, sondern einen großen Freiraum öffnen. Deswegen Diskretion, keine emotionale Annäherung, so daß eine differenzierte Begegnung möglich wird. Reduktion als Zurücknahme individualistischer Expressivität, als Notwendigkeit, unsere eigene Klangwelt wiederzufinden. Das Ziel meiner Musik ist eine Pause, ein Innehalten. Heute meine ich: noch mehr Konzentration, keine voreilige Kommunikation, sondern der Versuch, den inneren Raum zu suchen und zu finden, der nach außen in den Klang dringt. Das Ziel ist ein Klangraum, in dem alles miteinander und untereinander in Beziehung steht. Nach wie vor glaube ich, daß das unser Weg sein müßte. Das ist auch eine Überlebensstrategie – um nicht unter die Räder des Fortschritts zu kommen.



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