Von weißgardistischen Warlords, der Robert-Bosch-Stiftung
und dem Deutschlandfunk (2011)
A jednak dobrze jest, wszystko jest dobrze — Co? — może nie? Dobrze jest psia-krew, a kto powie, że nie, to go w mordę!
(Trotzdem ist es gut, alles ist gut — Wie? — etwa nicht? Es ist gut, gottverdammtnochmal, und wer nein sagt, dem haust du eine aufs Maul!)
Stanisław Ignacy Witkiewicz, Pożegnanie jesieni (Abschied vom Herbst, 1926)
Geschichte bewegt sich in einem dialektischen Zickzack. Sie verfügt über einen langen Atem. Anhänger des Fortschritts haben an ihr nicht immer Freude. Namentlich dann nicht, wenn der Weltgeist (Vernunft) sich eine Auszeit nimmt und das Feld dem Zeitgeist (Stumpfsinn) überläßt. Wenn Rückschrittler und Profiteure Oberhand gewinnen und vorerst behalten, bleibt nur, sich dem allgemeinen Wahnsinn, so gut es geht, zu widersetzen und nicht den eigenen, besseren Weg zu verlieren. Dabei hilft es zu wissen, daß die Idiotien einer Zeit und Gesellschaft immer Ausdruck einer Gesamtidiotie sind. Der herrschende Wahnsinn ist immer der Wahnsinn der Herrschenden.
Man hört des öfteren, wir lebten in einem neuen Mittelalter. Das ist falsch. Tatsächlich deutet alles hin auf eine Re-Mythologisierung der Lebensverhältnisse. Immerhin kehrte im späten Mittelalter wider den Glauben und die Theologie die Freude am Denken um seiner selbst willen zurück. Der Mythos hingegen fetischisiert die Verhältnisse, indem er Natur und Kultur durcheinanderwirft. Er verleiht dem, was ist, eine scheinbar magische Aura. Der Mythos ist zeitlos in dem Sinn, daß er Kultur/Gesellschaft naturalisiert – in ihnen Formen, Ausprägungen einer ewigen Natur zu erkennen meint – und Geschichte eskamotiert. Wenn die Gegenwart als alternativlos erscheint, fehlt der Funke des Widerspruchs als Fortschrittsbedingung. Widerstand ist hier unmöglich (weil quasi undenkbar) und intellektuelle Verwahrlosung der Normalfall. Im folgenden ein besonders deutliches Beispiel.
Am 16. September 2011 sendete der Deutschlandfunk in seiner Reihe Das Feature einen dokumentarischen Radio-Essai über den weißgardistischen General und Freischärler Roman v. Ungern-Sternberg. Diese durch & durch verkommene (und also nicht uninteressante) Figur – Produkt einer deutsch-baltischen Familie und zaristischer bzw. weißgardistischer General – verschlug es im Zuge der Niederlage in der Oktober-Revolution über Sibirien in die Mongolei, wo sie als paranoider Möchtegern-Dschingis-Khan eine achtzehnmonatige Herrschaft des Schreckens verantwortete. Das Ziel: Errichtung einer Großmongolei unterm Zeichen eines militanten Buddhismus, Erneuerung der chinesischen Qing-Dynastie, gemeinsamer Sieg über das revolutionäre Rußland.
Tatsächlich gelang es Ungern-Sternberg und seiner Gefolgschaft nach mehreren Anläufen im Februar 1921 aus Niislel-Chüree (ab 1924 Ulaanbaatar) die chinesischen Truppen zu vertreiben und ein Terror-Regime zu installieren. Die erste Maßnahme: ein Pogrom an den chinesischen und jüdischen Bürgern. Daß namentlich die Juden für alles Schlechte in der Welt und nicht zuletzt für die Russische Revolution verantwortlich seien, stand für Ungern-Sternberg außer Frage. Ebensowenig verschont blieben russische Einwohner, die sich in den Augen der Warlords verdächtig gemacht hatten. Nachgerade bösartig war das Lob, das die Dokumentation Ungern-Sternberg dafür spendete, das Gemetzel nach drei Tagen doch noch beendet und sich daran gemacht zu haben, die Stadt auf Vordermann zu bringen.
Man traute kaum seinen Ohren. Je länger das Feature lief, desto deutlicher wurde: Eine bizarre, fragwürdige Apologie Ungern-Sternbergs. Ungern-Sternberg als draufgängerischer Befreier von russischer und chinesischer Unterdrückung, als Vorkämpfer und Retter des autochthonen Mongolentums!? Die angeblich übelwollende Nachwelt übersehe, daß Ungern-Sternberg als Bewunderer des mongolischen Vajrayana-Buddhismus und der mongolischen Kultur im allgemeinen eigentlich nur Gutes im Sinn gehabt und deswegen auch den Bogd Khan reinthronisiert habe (der Ungern-Sternberg daraufhin offiziell bescheinigte, die Wiederverkörperung des Kriegsgottes Begtse zu sein).
Gegenwärtig, so erfuhr man, finde eine Art Wiederentdeckung Ungern-Sternbergs statt. Man erkenne in ihm den Herold eines neuen spirituellen Bewußtseins, dessen Licht von Osten her leuchte. In diesem Zusammenhang fand übrigens bereits 1924 Oswald Spengler anerkennende Worte für den durchgeknallten Freiherrn:
Heute ist auf der ganzen Erde jede Art von politischer Macht und Tradition derartig zersetzt, daß verhältnismäßig sehr kleine Kräfte in der Lage sind, ganz außerordentliche Umwälzungen hervorzurufen. Eine derartige Möglichkeit hat einmal sehr nahe gelegen durch das Auftreten des Barons von Ungern-Sternberg in Turkestan, der 1920 eine gegen den Bolschewismus gerichtete Armee zusammenbrachte, mit der er nach kurzer Zeit Mittelasien fest in der Hand gehabt hätte. Dieser Mann hat die Bevölkerung weiter Gebiete bedingungslos an sich gefesselt, und wenn er gewollt hätte und den Bolschewisten seine Beseitigung nicht geglückt wäre, so läßt sich nicht absehen, wie das Bild Asiens sich heute bereits ausnehmen würde. Wenn in diesen Jahren ein solches Heer begeisterter Anhänger eines geborenen Führers, Abenteurers und Eroberers mit der Parole »Asien den Asiaten« aufbräche, so ist es gewiß, daß es weder in China noch in Indien ernsthafte Hindernisse fände. [...] In der Bauernschaft der russischen und asiatischen Erde [...] regt sich die religiöse Inbrunst, halb christlich-orthodox, halb bolschewistisch verkleidet, ihres eigentlichen Wesens noch kaum bewußt, und aus ihr kann eines Tages die große Erscheinung hervorgehen, die in einem ungeheuren Ansturm das Bild Asiens und damit die diplomatischen Ziele und Hoffnungen der Welt von Grund aus verändert. Vielleicht wird eines Tages die heilige Revolution ebenso blutig losbrechen wie einst die rote. Das Beispiel des Barons von Ungern-Sternberg zeigt, mit wie geringen Mitteln Asien in einer Form mobil zu machen ist, gegen die es keinen Widerstand gibt. (Kombiniert aus: Neue Formen der Weltpolitik, in: Politische Schriften, München 1933, S. 159–183; ebd., S. 178; Neubau des deutschen Reiches, in: Politische Schriften, a. a. O., S. 187–295; ebd., S. 294)
Spengler wurde freilich ebensowenig erwähnt wie der Umstand, daß heutige Ungern-Sternberg-Fans vor allem im Neofaschismus- und Neonazi-Milieu zu finden sind und z. B. unter YouTube-Videos gerne und oft Kommentare wie diese posten (Grammatik und Orthographie unverändert übernommen): „We need more Madmen like him! Otherwise jews and capitalist and communist world order will control Mankind!“ / „Russian nobelman, warhero, defender of the monarchy, anticommunistic warlord, god of war! Hail you forever!“ / „Maybe the Baron is dead, but his ideal is definitely not!“ / „smash the bolshevism animals! Hail the Blody White Baron!“ / „One of the gratest heroes of our times. He incarnates Eurasia, the solar empire, the true alliance between the Aryans and Asians against the south-spawned ideologies (humanism, communism). Lng live his memory“ / „He knew what to do with Jews“
Nicht oder nur sehr schwer zu verhindern ist, daß Faschisten und Nazis ihren Dreck im Netz verbreiten. Aber warum gewährt der Deutschlandfunk dem Massenmörder, hysterischen Antisemiten, bekennenden Okkultisten Ungern-Sternberg eine Rehabilitation? Wir verdanken das Propagandastück Dschingis Khan für ein halbes Jahr. Baron Ungern von Sternberg, Herrscher der Großen Steppe einem gewissen Mario Bandi, über den man aus den üblichen Quellen wenig erfährt. Sein Hörstück wäre nicht möglich gewesen wäre ohne die Unterstützung der Robert-Bosch-Stiftung. Weder erstaunlich noch verwerflich ist, daß die sich nicht als Sprachrohr des Weltgeistes versteht. Und doch ist es bedenklich (und ein Teil der oben erwähnten Gesamtidiotie), daß im Programmbereich Grenzgänger, wo Bandis Radio-Dokumentation Aufnahme fand, sieben der neun zuletzt geförderten Projekte reaktionären Tendenzen folgen.
Entgleisungen wie die Ungern-Sternberg-Sendung sind das Ergebnis historischer Indolez, intellektueller Verantwortungslosigkeit, zweifelhafter Grundsätze. Ist Rettung in Sicht? Nicht wirklich. Der Weltgeist hat sich vorerst verzogen, und solange er pausiert, bleibt nur, sich dem allgemeinen Wahnsinn, so gut es geht, zu widersetzen und nicht den richtigen Weg zu verlieren.
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Nachbemerkung 2020:
1.) Dschingis Khan für ein halbes Jahr. Baron Ungern von Sternberg war eine Koproduktion von Deutschlandfunk und Südwestrundfunk und lief in beiden Sendern. Beim DLF fand man diesen Radio-Essai so stark, dass man ihn bereits 2017 wiederholte. Hier die Webseite der Ursendung, hier die der Wiederholung (inklusive Sendungsmanuskript). Man beachte in der Ankündigung nur die zwei Sätze: „Mit einer kleinen Schwadron vertrieb er die Chinesen aus Urga, der Hauptstadt der Mongolei. Danach galt er als Befreier des Landes und dessen geistlichen Oberhaupts, den Bogdogegen.“ Sie zeigen bereits die ganze Verkommenheit des Hörstücks. Ungern-Sternberg vertrieb nur chinesische Soldaten. Die chinesischen Zivilisten lieferte er einem Massaker aus, dem auch vermeintliche Kollaborateure und alle jüdischen Bürger zum Opfer fielen. Und was Ungern-Sternbergs Ruf als Befreier angeht: Es waren die von ihm Befreiten, die später die Rote Armee anflehten, Ungern-Sternbergs Horrorherrschaft zu beenden.
2.) Im Text, also 2011, wies ich darauf hin, dass „eine Re-Mythologisierung der Lebensverhältnisse“ zu beobachten sei. Zehn Jahre später bin ich selbst etwas erstaunt, wie fortgeschritten inzwischen dieser Prozeß ist. Nur ein Beispiel (das an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig lässt). Wie es um den allgemeinen Zustand einer Gesellschaft bestellt ist, kann man u. a. daran erkennen, welche Intellektuellen gerade Konjunktur haben, in Mode sind, auf breiter Front dominieren. In den Kultur-Abteilungen aller Qual.medien ist man sich einig: Jordan Peterson sei der Mann der Stunde (Wikipedia, offizielle Webseite). So interessant es wäre, näher darauf einzugehen, warum ein mittelmäßiger Psychologe, miserabler Philosophendarsteller und reaktionärer Obskurant als „most influential public intellectual in the Western world“ reüssiert: Worauf es hier ankommt, ist, dass Peterson – angeblich „in a different intellectual league“ und „one of the most important thinkers to emerge on the world stage for many years“ – unsere Weltwahrnehmung, unsere Ideen über die Ordnung der Welt und der gesellschaftlichen Beziehungen auf mythische Archetypen zurückführt. Mythen, so Peterson, seien die Quelle unseres Verhältnisses zur Welt, der Ursprung unseres psychologischen und moralischen Wesens. Peterson mythologisiert Gesellschaft und Moral, er naturalisiert den Mythos. (Wer Zeit übrig hat, mag das alles nachlesen in Maps of Meaning und/oder 12 Rules of Life.) Soweit ich sehe, ist Peterson im Moment DER Exponent jener Re-Mythologisierung aller Lebensverhältnisse, von der ich sprach. Und das buchstäblich. Es handelt sich, angesichts der ubiquitären Krise des Hyperkapitalismus, um ein Rückwärtswollen, um einen vergeblichen Versuch, die Moderne mit vormodernen Waffen zu bezwingen. Petersons Erfolg bei den Schwachen im Geiste ist das Symptom einer Misere, deren tiefere Ursache sicher nicht darin liegt, dass wir die scheinbar archetypischen Ursprünge unserer moralischen Werte verdrängen.
3.) Es ist erschreckend, auf dem Hintergrund der gesellschaftlichen Gesamtidiotie aber bezeichnend, dass Ungern-Sternbergs Ansehen seit 2011 eher gestiegen als gefallen ist. Jeder, der es wissen will, weiß, worin Ungern-Sternbergs Leistungen bestanden haben. Von Bandis Satz, dass „an die kommunistischen Propagandaklischees vom blutigen General kaum noch jemand glaubt“, ist es nicht weit zu dem Satz, man möge sich durch kommunistische Propagandaklischees nicht vorschreiben lassen, wie Hitler zu beurteilen sei. Wer genau glaubt denn nicht mehr an das Klischee des blutigen Generals? Sicher nicht diejenigen, die ihrer unvoreingenommenen Begeisterung im WWW so Ausdruck verleihen (Grammatik und Orthographie erneut unverändert übernommen): „This man wasnt only human he was divine! ALL HAIL THE DIVINE GOD OF WAR! LORD OF URGA! MAD BARON! PROTECTOR OF MONGOLIA! DIVINE DHARMA!“ / „Great man! He had a vision. Unfortunatly white army was full of other lesaders who did not see what was the main point and they spend they time to argue by them selfs. But barons Ideas are living still.“ / „Defender of the Faith, Russian Orthodox Christian Meditation mixed with Tibetian Mantras. In glory of traditionalism and beautiful cultures of Europe and Asia combined. Basically, the role model for any traditionalist of nowtimes.“ / „The Baron may have had evil men in his army, and he, like all men, was flawed, but his fight against the Communists was one that all peoples should look up to and admire.“ (Usw. usf.)
Weshalb, um alles in der Welt, ermöglichen die Bosch-Stiftung und zwei Rundfunkanstalten die Produktion eines Radio-Essais, dessen Botschaft, ob gewollt oder ungewollt, ist irrelevant, darin besteht, sich nicht anzumaßen, Ungern-Sternberg als das zu bezeichnen, was er war und wofür er von Neofaschisten und Neonazis heute mehr denn je bewundert wird: als gemeingefährlichen Psychopathen und höchstgradigen Antisemiten (selbst der Bogd Khan, Lama von Ungern-Sternbergs Gnaden, war angewidert), als Schinder, Kriegsverbrecher, Massenmörder. Bandis Hörstück endet mit folgendem (unkommentierten) Zitat: „Nur dank dem Baron Ungern ist die Mongolei zu einem europäisch gesinnten Land geworden. Wenn er uns nicht befreit hätte, wären wir China unterlegen und dessen Bestandteil geblieben, wie die Innere Mongolei.“ Was für ein Schwach- und Irrsinn.
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Nachbemerkung 2022:
Als jemand, der sich intensiver mit Claude Lévi-Strauss’ strukturalistischer Mythen-Analyse beschäftigt hat, also mit Fragen der Mythologie und mythologischer world views im Allgemeinen, sollte ich, um jedes Missverständnis zu verhüten, Folgendes ergänzen: Es besteht ein wesentlicher Unterschied, ob ich als Ethnologe, Anthropologe, Kultur- oder Geisteswissenschaftler althergebrachte Mythen daraufhin untersuche, welche welterschließende und welterklärende Funktion sie innerhalb existierender ideologischer Strukturen haben, oder ob ich, à la Jordan Peterson, verzweifelt versuche, die Gegenwart, weil sie mich überfordert, ideologisch zu re-mythologisieren (bzw. zu simplifizieren). Es besteht ein großer Unterschied zwischen denen, die Mythen analysieren, um deren ideologische Funktion zu verstehen, und denen, die, wie Peterson, nach Mythen lechzen, weil sie sie als rettenden ideologischen Strohhalm benötigen. Die Re-Mythologisierung der Lebensverhältnisse, von der ich oben sprach, geht vollständig auf das Konto pseudowissenschaftlicher Clowns wie Peterson, deren Ziel es ist, reaktionären Sehnsüchten zu entsprechen und Ausdruck zu geben.