Die lüsterne Venus oder Aus dem Leben einer berühmten Kurtisane
In seiner
Geschichte meines Lebens (Historie de ma vie, entstanden ab 1789) schreibt
Giacomo Casanova: „Lust ist der wirkliche Genuss der Sinne; sie ist eine umfassende Befriedigung, die man ihnen bei allem, was sie verlangen, gewährt. Philosoph ist der, der jede Lust gutheißt, die keine größeren Leiden verursacht und die er sich selbst zu gewähren weiß.“
Das Denken der Aufklärung kreist um die Frage der sinnlichen Erfahrung und Erkenntnis, um das Sinnliche und Sinnlichkeit überhaupt. Es wertschätzt die sinnliche Empfindung, den sinnlichen Genuss, das Vergnügen der Sinne und am Sinnlichen – was zwangsläufig zu einer philosophischen Beschäftigung mit dem Körper bzw. Leib führt. Wenn zutrifft, dass unser Körper/Leib das Medium unserer Erkenntnis(se) ist, sollten wir ihn gut behandeln: ihm nicht zuletzt Lustgefühle und sinnliche Genüsse verschaffen.
Die Philosophie der Aufklärungsepoche hat keine Bedenken, sich auch mit der Sexualität zu beschäftigen. Sobald man, wie zumal der französische Materialismus des 18. Jahrhunderts, Denken und Erkenntnis auf sinnliche Erfahrung zurückführt, wird man
die körperliche Lust
als Quelle der intensivsten sinnlichen Erfahrung nicht ignorieren können. Körperliche Lust erscheint in diesem Zusammenhang nicht als animalisch-instinktives Tun, sondern als freies Spiel von einerseits Körper/Leib und andrerseits Geist/Seele, als Kraftfeld zwischen Libido und Imagination. Rosine, die libertine Heldin des Buches, versucht sich daran, „die Natur, die nichts auf Zeremonien gibt“ und „mit unwiderstehlicher Macht zu uns spricht“, durch „die Kunst zu verbessern, indem man sie der Natur hinzufügt“. Das heißt: Wir zügeln die Willkür der Natur, indem wir sie
unseren Wünschen und Zwecken dienstbar machen. Das Ziel ist, den Lebensgenuss zu steigern.
Kurzum: Philosophie und Sexualität bilden im Aufklärungsmaterialismus keinen Gegensatz. Er (der Aufklärungsmaterialismus) impliziert nicht zuletzt, Lust und Begierde zu durchdenken, um uns und einander höchstmögliche Lebensfreude zu verschaffen. Er impliziert, Theorie (Denken, Überlegung) und Praxis (Empfinden, Genuss, Lust, Freude) zu vereinen. Diese theoretische sowohl als praktische Verbindung von Erotik und Philosophie könnte man als
Erotosophie
bezeichnen. Erotosophie meint:
Philosophie der Erotik und
erotische Philosophie,
Erkenntnis/Wissenschaft der Erotik und
erotisches Erkennen/Wissen,
geistige Durchdringung der Erotik und
erotisches Durchdringen des Geistes,
Philosophie-Werden der Erotik und
Erotisch-Werden des Denkens (usw.).
Die erotosophische Revolution, die sich ungefähr zwischen 1740 und 1790 namentlich in Frankreich ereignet, versöhnt das Denken bzw. die Philosophie mit dem Körper/Leib. Ihren literarischen Niederschlag findet sie in Hunderten von libertinen bzw. erotosophischen Büchern, in denen zum ersten Mal der Körper/Leib als solcher in den Mittelpunkt rückt. Die libertine bzw. erotosophische Literatur beschreibt und propagiert die Emanzipation der Lust durch das Denken, die Emanzipation des Denkens durch die Lust. (Kein Wunder daher, dass die libertinen Werke und die verfemten Abhandlungen der materialistischen Philosophen bei den Buchhändlern auf denselben Listen standen und unter denselben Ladentischen verkauft wurden.)
Unsere Übersetzung/Edition der wohl 1790/91 verfassten
Venus schließt eine kultur- und literaturgeschichtliche Lücke. Das anonym verfasste Buch ist nicht so bekannt wie die erotosophischen Klassiker und vielleicht kein vollendetes Meisterwerk. Was es jedoch bietet, ist nicht nur sinnliche Unterhaltung par excellence, sondern auch die realitätsgetreue Beschreibung einer französischen Kurtisanenkarriere des 18. Jahrhunderts und damit ein pralles Sittengemälde jener Epoche.