Jan Vermeers Mädchen mit dem Weinglas (2001)
Original paintings are silent and still in a sense that information never is. Even a reproduction hung on a wall is not comparable in this respect for in the original the silence and stillness permeate the actual material, the paint, in which one follows the traces of the painter’s immediate gestures.This has the effect of closing the distance in time between the painting of the picture and one’s own act of looking at it. In this special sense all paintings are contemporary.
John Berger, Ways of Seeing (1972)
Am Ende seines Films All the Vermeers in New York setzt der amerikanische Auteur Jon Jost eine visuelle Pointe, die die merkwürdige Aura der Gemälde Vermeers, ihren ästhetischen Reiz sui generis, beispielhaft veranschaulicht. In der im Metropolitan Museum of Art spielenden Sequenz wird die weibliche Hauptfigur des Films von einem Vermeer-Bild physisch absorbiert: Sie verschwindet darin, während sie es betrachtet. Eine treffende Visualisierung der wahrnehmungspsychologischen Sogwirkung, die von Vermeers Darstellungen ausgeht.
Auf diese besondere Qualität hinzuweisen, ist nicht originell. Allein, die Atmosphäre dieser Bilder IST rätselhaft, ihre Wirkung IST suggestiv. Es sind diese oft erwähnten Eigenschaften, die zwischen den Bildern und ihren Betrachtern eine seltene Nähe entstehen lassen. Was die Avantgarden der ästhetischen Moderne anstrebten – die Auflösung der Grenze zwischen Kunstwerk und Rezipient –, erreichte bereits Vermeer in ganz eigener Weise. Da seine kontemplativen Szenerien bewußt dem Akt der Wahrnehmung Rechnung tragen, gelingt es ihm, zwischen Kunstwerk und Rezipient eine sozusagen chiastische Beziehung herzustellen (Chiasmus: Verflechtung, Verschränkung). Man meint, unmittelbar adressiert, nicht distanzierter Betrachter, sondern stiller Zeuge zu sein. Vermeer organisiert das Zusammenspiel von Farben, Formen, Perspektiven so, daß der Eindruck, den seine Bilder hervorrufen, unmittelbar zu sein scheint. Die Art und Weise, wie er seine in irreal wirkendes Licht getauchten geometrisierten, gleichsam photographischen Bilder komponiert, führt zu jenem typischen Vermeer-Effekt, der die Grenze von Bildwirklichkeit und Betrachterwirklichkeit virtuell aufhebt. Darauf spielt Jon Josts visuelle Pointe an. Paul Claudel beschreibt diesen Effekt so:
Une peinture de Vermeer nous ne la regardons pas, nous ne la caressons pas une minute, d’un clignement d’yeux supérieur; immédiatement nous sommes dedans, nous l’habitons. Nous sommes pris. Nous sommes contenus par elle. Nous en ressentons la forme sur nous comme un vêtement. Nous nous imprégnons de cette atmosphère qu’elle enclôt. Nous y trempons par tous les pores, par toutes les sensibilités et comme par toutes les ouïes de notre âme. (P. Claudel: Introduction à la peinture hollandaise, Paris 1935, S. 26)
Ein Gemälde von Vermeer betrachten wir nicht, nicht eine Minute lang berühren wir es mit einem superioren Augenzwinkern; sofort sind wir mitten in ihm, wir bewohnen es. Wir werden mitgerissen. Wir werden von ihm eingeschlossen. Wir spüren seine Form um uns wie ein Kleidungsstück. Wie werden von dieser Atmosphäre, die es umgibt, durchdrungen. Wir tauchen in es ein mit allen Poren, mit allen Empfindungen und wie durch alle Sinne unserer Seele.
Natürlich sind Vermeers Bilder auch historisch-ästhetische Dokumente, Produkte sozialer und kultureller Verhältnisse, also ikonographisch entschlüsselbar. Aber darüber hinaus besitzen sie wie nur wenige andere Kunstwerke eine wahrnehmungspsychologische, mithin ahistorische und asemantische Tiefenstruktur. Der Vermeer-Effekt erklärt sich nicht oder nur zu einem gewissen Teil aus der Narrativität der Bilder, nicht oder nur zu einem gewissen Teil aus ihrem offenbaren oder einem zu entschlüsselnden Sinngehalt. Vielmehr ist es die strukturelle Anordnung und Gestaltung der Bildelemente als solche, die diesen Werken eine zusätzliche psychoästhetische Dimension verleiht. Anders gesagt: Die Bildoberfläche wird zum eigentlichen Bedeutungsträger. Sie ist es, die, paradoxerweise, jene Vermeersche Tiefen- oder Sogwirkung auslöst.
Vermeer weiß Oberflächen, Lichtmodulationen, Luftqualitäten, Stofflichkeiten, Texturen, formale und materiale Beschaffenheiten etc. so auf die Leinwand zu bringen, daß die Darstellung an sich das Dargestellte dominiert. Das bedeutet, wie gesagt, nicht, daß die Semantik des Bildinhalts und der Bildelemente unwichtig sei. Es bedeutet, daß Vermeers Malerei Narrativität und Semantizität hinter sich läßt und direkt auf unser leiblich-sinnliches Sein zielt. Sie ist mehr als eine Trägerin ikonographisch entschlüsselbarer Inhalte, nämlich vor allem mit der Darstellbarkeit dessen befaßt, was zwischen Betrachter und Betrachtetem sich ereignet.
Genre-Bilder sind Vermeers Werke nur insoweit, als sie bestimmte Elemente der Genre-Malerei à la Frans Hals, Adriaen Brouwer, Adriaen van Ostade, Gerrit Dou, Gerard ter Borch, Gabriël Metsu, Pieter de Hooch, Pieter Janssens Elinga, Nicolaes Maes, Frans van Mieris aufgreifen, um sie zu Variablen komplexer psychoästhetischer Versuchsanordnungen zu machen. Was Vermeer von richtigen Genre-Malern unterscheidet, ist, daß bei ihm das Literarisch-Anekdotische, Emblematische, Allegorische stets Mittel eines anderen Zwecks ist. Vermeer gelingt – egal, ob beabsichtigt oder nicht – die Befreiung der Bildmittel von ihrer narrativen Bindung. Ihm gelingt es, Farben, Linienführungen, Kontraste, Perspektiven usw. dergestalt zu organisieren, daß das Wechselspiel von Licht, Raum und Material die Darstellungsfunktion der Bilder wenn nicht außer Kraft setzt, so doch wesentlich in den Hintergrund treten läßt.
Arthur Schopenhauer hat einmal als Daseinszweck der Genre-Malerei die Fixierung flüchtiger Szenen des Lebens bestimmt. Mit Blick auf Vermeer ist das nicht falsch, aber es greift zu kurz. Vermeer ist es nicht wirklich darum zu tun, alltägliche Ereignisse/Szenen festzuhalten, sondern darum, die Aufmerksamkeit auf die ästhetische Inszenierung des Dargestellten selbst zu lenken. Während die zeitgenössischen Genre-Maler darum bemüht sind, die Figuren glaubhaft als Alltagsgestalten zu charakterisieren, erscheinen sie bei Vermeer sozusagen als Statisten einer ästhetischen Feier der Malerei selbst. Wie raffiniert Vermeer Topoi der Genremalerei verwendet und zugleich de-semantisiert, zeigt nicht zuletzt Das Mädchen mit dem Weinglas.
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Das Mädchen mit dem Weinglas ist vermutlich etwas später entstanden als das ähnliche Bild Herr und Dame beim Wein. In Vermeers Schaffen markiert es einen Wendepunkt. Verglichen mit früheren Werken zeigt es einen feineren, samtigeren Farbauftrag. Gemalt in Öl auf Leinwand, mißt es 77,5 × 66,7 cm – womit es ungefähr genauso groß ist wie das inhaltlich und kompositorisch verwandte, kurz zuvor gemalte Bild Frau mit zwei Offizieren von Pieter de Hooch. In Vermeers Werkkatalog gehört es zu den größeren Formaten, nur vier Bilder sind größer: Bei der Kupplerin (143 × 130 cm), Schlafendes Mädchen (86,5 ×76 cm), Briefleserin am offenen Fenster (83 × 64,5 cm), Dame mit Dienstmagd und Brief (92 × 78,7 cm). Auch bemerkenswert: Es gehört zu den wenigen von Vermeer signierten Werken. Auf der Fensterscheibe rechts unten findet sich die Kennzeichnung IVMeer.
Der Zustand ist im allgemeinen gut, doch hat man das Gemälde nicht immer mit der gebotenen Vorsicht behandelt. Die Wand zwischen den männlichen Figuren weist Spuren von Retuschen auf, der Arm und die Ärmelchen des Mädchens, vor allem aber die Gesichter des Kavaliers und des Mädchens wurden durch unsachgemäße Korrekturen verschlimmbessert.
Das Mädchen, neben dem Konzert zu dritt das einzige dreifigurige Gemälde Vermeers – das frühe, noch untypische Bild Christus bei Maria und Martha darf vernachlässigt werden –, zeigt eine Szene lockeren Müßiggangs. In der Ecke eines bürgerlichen Interieurs: drei soignierte Personen: eine junge Frau, zwei Männer. Was sie zu verbinden scheint, ist die Bereitschaft, die Grenzen des Schicklichen auszureizen. Aufmerksamkeit beansprucht vor allem das im Vordergrund dargestellte Paar. Die junge Dame – das rotseidene Gewand mit ellenbogenlangen, in weißen Spitzenrüschen auslaufenden Goldbrokatärmeln ist von erlesener Feinheit – führt zögerlich mit der rechten Hand ein Glas Weißwein, das sie, wie ihre Vorgängerin in Herr und Dame beim Wein, formvollendet an dessen unterem Ende zwischen Daumen und Zeigefinger hält. Sie sitzt auf einem Stuhl, der nahezu parallel zum Betrachterstandpunkt positioniert ist. (Derselbe Stuhl dient im Bild Stehende Virginalspielerin als Repoussoir).
Der Reiz des Bildes liegt zunächst darin, daß das Mädchen aus dem Bildraum heraus den Blick der Betrachter sucht. Diese Durchbrechung der vierten Wand bestimmt das Narrativ der Szene. Da das Mädchen den Betrachtern nicht frontal gegenüber, sondern seitlich von ihnen sitzt, ist klar, daß der Blickkontakt nicht zufällig sein kann, daß er von ihr gesucht wird. Ihr Blick hält das Bild hermeneutisch in der Schwebe. Obwohl sie sich absichtlich den Betrachtern zuwendet, bleibt ihr Mienenspiel unbestimmt. Sie lächelt. Doch wirkt ihr Lächeln nicht verlegen? Der sich tief zu ihr herabbeugende Kavalier animiert sie mit einer vorsichtigen Bewegung der rechten Hand, (wieder?) am Glas Wein zu nippen. Sein Gesichtsausdruck verrät gespannte Erwartung, sein Habitus, daß es sich um einen gentilhomme handelt, der die Gebote der Schicklichkeit eigentlich kennt und erfüllt. Im Widerspruch dazu: seine Ermutigung, diese Gebote zu mißachten und der Sinnenlust zu folgen. Er poussiert mit dem Mädchen, das ihm keine offensichtliche Antipathie entgegenbringt, eher zwischen Neugierde und Vorsicht hin und her gerissen zu sein scheint. Unterstrichen wird dies durch die Art, wie sie etwas unbeholfen mit der linken Hand nach dem weißen Tuch auf ihrem Schoß greift. (Vielleicht eine Anspielung auf ihre Unschuld – die sie verlieren könnte, wenn sie sich auf den Pfad der Untugend locken ließe.)
Nur: Könnte es umgekehrt nicht auch die junge Frau sein, die den gentilhomme vom rechten Weg abbringt? Hielte sie sich so aufrecht, wenn sie verlegen und schüchtern wäre? Warum wendet sie sich von ihrem Verehrer ab und den Betrachtern zu? Es wirkt fast, als wolle sie sich einer gemeinsamen, stillen Komplizenschaft versichern. Zeigt sich in ihrem Lächeln tatsächlich Verunsicherung? Nicht vielmehr eine gewisse Schläue? Auf den zweiten Blick entsteht eine Mehrdeutigkeit, die es unmöglich macht, Rollen endgültig zu verteilen.
Währenddessen sitzt abseits, rechts hinter dem Paar im Schatten, ein zweiter Mann. Nicht weniger vornehm als der Kavalier, ist er in ganz anderer Stimmung. In melancholischer Pose hat er am Tisch Platz genommen, mit geschlossenen Augen und auf der Faust abgestütztem Kopf wirkt er nur physisch anwesend. (Eine Haltung, die an Das schlafende Mädchen erinnert). Er scheint mit den Gedanken woanders zu sein. Vielleicht ist er eingenickt. Vielleicht verfolgt er widerwillig das Schauspiel einer Verführung in statu nascendi, weil er selbst weniger Erfolg hatte. Oder er ist der Eskapaden seines Freundes überdrüssig. Möglich auch, daß nicht die Tändelei Ursache seines Zustandes ist, sondern übermäßiger Genuß von Wein und/oder Tabak.
Der Tisch ist mit einer Tafeldecke umhüllt, dessen Tiefblau sich gegen das Weiß eines ohne Sorgfalt abgelegten, über die Tischkante hinabfallenden Tuches und das strahlende Rot des Gewandes abhebt. Durchs geöffnete, mit Wappen und Emblem ornamentierte Fenster fällt Licht, das ein Stilleben mit Apfelsinen (Zitronen?) auf einem Silbertablett illuminiert. Ein (auch aus anderen Bildern Vermeers vertrauter) Henkelkrug, eine vermutlich mit Tabak gefüllte Papiertüte sowie ein kleiner Pfeifenkopf verweisen, wie angedeutet, möglicherweise auf den Mann im Hintergrund.
Vermeer hat Gegenstände und Posen, bestimmte Räume und ganze Bildaufbauten mehrfach verwendet. Die Stube des Mädchens kennen wir aus neun weiteren Werken: Herr und Dame beim Wein, Lautenspielerin am Fenster, Konzert zu dritt, Allegorie der Malerei, Der Liebesbrief, Briefschreiberin und Dienstmagd, Allegorie des Glaubens, Stehende Virginalspielerin, Sitzende Virginalspielerin. Der mit einem emblematischen Wappen versehene Buntglasfensterflügel taucht ebenfalls im Bild Herr und Dame beim Wein auf. Die Figur, die das Wappen schmückt, personifiziert die dritte Haupttugend: temperantia, also Selbstbeherrschung. Wie in Gabriel Rollenhagens berühmtem Emblem-Buch Nucleus emblematum (1611) sind der Allegorie Zaumzeug und Winkelmaß attribuiert: Kennzeichen eines gezügelten, genügsamen Naturells. Der dem Emblem beigegebene epikureische Sinnspruch warnt: „Mens servare modum, rebus sufflata secundis, / Nescit affectus frena tenere sui.“ („Bewahre das schickliche Maß, denn die Begierde vermag, vom Glück emporgehoben, nicht, sich Zügel anzulegen.“ – Nucleus emblematum electissimorum, Emblem Nr. 35, Köln 1611, S. 36) (Nur im Vorbeigehn: Offensichtlich handelt es sich um eine ins Imperativische gewendete Fassung des bekannten Spruchs aus Vergils Aeneis, Aen. X 501 f.: „Nescia mens hominum fati sortisque futurae, / Et servare modum rebus sublata secundis!“ [„Weder vermag des Menschen Geist jemals Schicksal und Zukunft zu ergründen, / noch, vom Glück emporgehoben, Maß zu halten.“])
Auch bildformal ist der ikonographische Zusammenhang des Glasfensters mit dem Sujet gegeben. Die Stellung des Fensters ist so eindeutig, daß der Bezug sich fast aufdrängt. Die untere Kante des Rahmens zeigt auf den Mann im Hintergrund, während das Paar genau parallel zum Rahmen im einfallenden Licht placiert ist. Vom Licht beschienen ist auch das Stilleben. Als Anspielung auf die verschiedenen Stadien der Verführung kann man das Obst interpretieren. Eine Frucht ist unberührt, bereits geschält die zweite. Tabak und Wein symbolisieren dann Haltlosigkeit und Unreife.
Der Retuschen wegen gehört das Mädchen mit dem Weinglas nicht mehr zu Vermeers besten Werken. Keinesfalls so gravierend, daß sie den Vermeer-Effekt zerstören würden, beeinträchtigen sie dennoch den Gesamteindruck. An der allgemeinen Qualität des Gemäldes besteht allerdings kein Zweifel. Von besonderer Bedeutung ist das Mädchen, wie gesagt, nicht zuletzt, weil mit ihm eine neue Schaffensphase beginnt. Im Gegensatz zu früheren Werken ist es weniger pastos angelegt. An die Stelle eines tendenziell robusten, naturalistischen Stils, dessen Schlußpunkt Herr und Dame beim Wein bildet, tritt der Versuch, das Spiel der Farben und Formen, des Lichts usw. als solches einzufangen. Verbunden damit ist eine Abwendung von einer primär narrativen Malerei. Natürlich transportiert das Mädchen auch eine bestimmte Botschaft. Aber Vermeers Malerei wird sozusagen immaterieller, sie verliert an physischer Dichte, wird zu einer Art Experiment, in dessen Mittelpunkt das Problem von Darstellung und Darstellbarkeit überhaupt tritt.
Vielleicht wird deutlicher, was gemeint ist, wenn man z. B. die Dienstmagd mit Krug dem Mädchen mit dem Weinglas gegenüberstellt. Mit kräftigen Strichen wird die Magd zum Leben erweckt, während die Gestik der Pinselführung beim Mädchen deutlich feiner ist. Vermieden werden bis dahin gerne eingesetzte Impasto-Effekte und starke Kontraste. Der frühere, eher sthenische Ausdruck weicht einer infinitesimalen Differenzierung, ohne die Kohärenz einer übergeordneten, bildbestimmenden Farb- und Lichtskala zu verletzen. Anders als beispielsweise ter Borch, bei dem die Wiedergabe von Stoffen, bzw. die Darstellung von Stofflichkeit, als Selbstzweck erscheint (vgl. etwa Das Konzert), bevorzugt Vermeer nun eine harmonisierende Licht- und Farbregie, die Lokaleffekte ausschließt. Während ter Borch dazu neigt, die sinnlichen Qualitäten eines Einzelobjekts so hervorzuheben, bis es die ganze Aufmerksamkeit der Betrachter auf sich zieht, ordnet Vermeer alle Bildelemente einem organisch entwickelten Ganzen unter.
Interessant ist, daß das Mädchen zu den insgesamt nur drei Darstellungen Vermeers gehört, die auf ein Repoussoir verzichten. Der Bildeinstieg bleibt frei, ohne Ablenkung. Da nichts Künstliches die Betrachter von den Figuren abgrenzt, werden sie (die Betrachter) um so stärker ins Bildgeschehen einbezogen. Des weiteren stellt Vermeer die Figuren aus der Untersicht dar, während er den Bildhorizont aber in die obere Bildhälfte verlagert. Indem er den Horizont der Figuren senkt und den des Bildes anhebt, gelingt ihm ein wahrnehmungspsychologisch paradoxer Aufbau. Die Figuren scheinen eine gewisse larger-than-life-Qualität zu besitzen, die jedoch vom insgesamt hohen Horizont zugleich aufgehoben wird. Einerseits empfinden die Betrachter die Figuren, der Untersicht wegen, als unnahbar, andrerseits werden die Betrachter, des hohen Bildhorizontes wegen, ins Bildgeschehen hineingezogen. Nicht zuletzt aus solchen subtilen Manipulationen der Wahrnehmung ergibt sich der Vermeer-Effekt.
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In der Mitte des 17. Jahrhunderts verwandelte sich die niederländische Malerei. Waren Genre-Bilder bis dahin vor allem Alltagsdarstellungen – Darstellungen der unteren Volksschichten, die bei ihren Vergnügungen gezeigt wurden –, ging man nun dazu über, die Welt des Bürgertums und deren Werte-Kanon abzubilden. Noch Brouwer, Ostade usw. wäre es nicht eingefallen, das ebenso bunte wie wilde Treiben des Volkes moralisch zu verurteilen. In der sozusagen verbürgerlichten Genre-Malerei aber ist gewissermaßen ein erhobener Zeigefinger immer präsent. Symbolische Anspielungen und allegorische Referenzen ermahnen und warnen nun die Betrachter. Die Malerei soll dazu beitragen, das sittliche Verhalten zu formen, das bürgerliche Selbstverständnis gleichzeitig zu spiegeln und zu stärken. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, inwieweit Vermeers Frauen-Darstellungen dieser Entwicklung Rechnung tragen. Zeichnen sie ein Idealbild, das der sich entwickelnden bürgerlichen Gesellschaft zur Orientierung gereichen soll? Vergleichen wir die frühen Gemälde Bei der Kupplerin, Das schlafende Mädchen und Der Soldat und das lachende Mädchen mit den späteren Bildern. Während die Darstellungen der Kupplerin, des Schlafenden Mädchens und des Lachenden Mädchens ihren Reiz dadurch erhalten, daß sie unbürgerliches Verhalten zeigen, thematisiert das Mädchen mit dem Weinglas moralische Werte, die das Verhalten einer jungen Frau des Bürgertums bestimmen sollten. Nicht erotisch-sexuelle Abenteuer oder Müßiggang im allgemeinen werden illustriert, sondern die Gefahren der Sinnenlust und des Sichgehenlassens. Während die früheren Bilder noch eine gewisse Selbstbestimmtheit oder Unbedarftheit ausdrücken, obliegt es dem Mädchen mit dem Weinglas, sich an die Regeln zu halten. Das Bild ruft in Erinnerung, wie eine junge Frau des Bürgertums sich (nicht) verhalten sollte.
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In der niederländischen Malerei war es nicht unüblich, Figuren aus dem Bildraum herausblicken zu lassen. Vermeers Mädchen unterscheidet sich von dieser Tradition in einem entscheidenden Punkt: Der Blick der jungen Frau unterbricht das Narrativ. Während bei anderen Bildern, aus denen heraus Figuren die Betrachter anschauen, der inhaltliche Gesamtzusammenhang nicht auseinandergerissen wird – vgl. etwa Nicolaes Maes’ Lauschende –, kommt es bei Vermeer zu einer Unterbrechung jener Ereignis-Chronologie, die Betrachter sich zwangsläufig ausdenken oder vorstellen. Um so größer ist die Irritation ob dieser Unterbrechung, die, und das ist das Raffinierte, nicht aufgehoben werden kann. Die eigentliche inhaltliche Bedeutung des Bildes liegt in diesem nicht-inhaltlichen Augenblick der Unterbrechung, des Einhaltens. Vermeer gelingt es, die Betrachter auf sich selbst als Betrachtende zurückzuwerfen. Anders gesagt: Der Gemütszustand der Betrachter beim Betrachten des Bildes ist ein Ergebnis dessen, was zwischen ihnen und dem Bild sich ereignet. Dieses Dazwischen ist der imaginäre Ort oder Nicht-Ort, wo der hermeneutische Impuls an der Ambivalenz des Dargestellten quasi abprallt. Das Mädchen exzitiert die Einbildungskraft der Betrachter, es setzt und hält sie in Bewegung, bis sie erkennen, selbst insofern im Mittelpunkt des Bildes zu stehen, als der eigentliche Inhalt des Bildes das Verhältnis von Betrachtung und Betrachtetem – Wahrnehmung und Wahrgenommenem – ist.
Es entsteht eine neue Möglichkeit der Kunst (die erst in der Moderne systematisch erschlossen wird). Letztendlich handelt es sich bei Vermeers reifer Malerei weder um Darstellungen flüchtiger Szenen des Alltags noch um Orientierungshilfen für moralisches Handeln. In ihrem künstlerischen Kern ist sie der Versuch – egal, ob beabsichtigt oder nicht –, die Kluft zwischen Betrachter und Bild zu schließen, die Wahrnehmung der Betrachter in dem Maße zu beeinflussen, wie das Dargestellte als Dargestelltes dargestellt wird: nicht als Dargestelltes an sich, sondern als Dargestelltes für uns, die Betrachter. Betrachter und Betrachtetes eint hier eine unhintergehbare Abhängigkeit, und es ist der Blick des Mädchens – als Unterbrechung des Dargestellten –, der diese Abhängigkeit der Betrachter vom Betrachteten verdeutlicht. Die Unterbrechung des Sinns, bzw. dessen unendlicher Aufschub, ist die Bedingung/Voraussetzung dafür, daß die Betrachter sich ihrer selbst als Betrachtende im und durch den Akt des Betrachtens bewußt werden. Vermeers Mädchen vernachlässigt die Bildbedeutung zugunsten einer psychoästhetischen Dynamik, die die Bildbedeutung bzw. Bedeutung des Bildes ins Unendliche aufschiebt. Die Bildbedeutung bzw. Bedeutung des Bildes ist zugleich anwesend, nämlich in der Oberfläche, im oberflächlich Sichtbaren, und abwesend, da sie zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem liegt (zwischen dem Bild und seinen Betrachtern). Einen endgültigen Sinn des Bildes gibt es nicht, er löst sich auf in dem, was unsichtbar bleibt und bleiben muß. Der Vermeer-Effekt besteht auch darin, daß und wie seine reifen Werke – und besonders Das Mädchen mit dem Weinglas – Sinn erzeugen und zugleich vorenthalten. (Man mag hier auf Jacques Derridas Konzept der différance verweisen, die als anwesend-abwesende bzw. abwesend-anwesende prä-semiotische Bewegung Sinn und Bedeutung hervorbringt, ohne selbst hervorgebracht zu sein.)
Auf eigenartige Weise fühlen sich die Betrachter mit dem Bild verbunden. Der Blick des Mädchens gleicht einem Spiegel, durch den die Existenz der Betrachter auf sie, die Betrachter, zurückgeworfen wird, und die, um als Betrachter-Existenz erfahrbar zu sein, eines Gegenübers bedarf. Es war vor allem Maurice Merleau-Ponty, der auf diesen Zusammenhang von Sehen und Gesehen-Werden, von Sehendem und Sichtbaren, aufmerksam gemacht hat. Daher zum Schluß ein Zitat aus L’Œil et l’esprit (Das Auge und der Geist, 1961). Denken wir uns das Gesicht des Mädchens als einen Spiegel, der UNS widerspiegelt.
Ce n’est pas un hasard, si souvent, dans la peinture hollandaise (et dans beaucoup d’autres), un intérieur désert est digéré par l’œil rond du miroir. Ce regard préhumain est l’emblème de celui du peintre [oder des Betrachters im allgemeinen]. Plus complètement que les lumières, les ombres, les reflets, l’image spéculaire ébauche dans les choses le travail de vision. […] Le miroir a surgi sur le circuit ouvert du corps voyant au corps visible. […] Le miroir apparaît parce que je suis voyant-visible, parce qu’il y a une réflexivité du sensible, il la traduit et la redouble. Par lui, mon dehors se complète, tout ce que j’ai de plus secret passe dans ce visage. […] Le fantôme du miroir traîne dehors ma chair. Et du même coup tout l’invisible de mon corps peut investir les autres corps que je vois. Désormais mon corps peut comporter des segments prélevés sur celui des autres comme ma substance passe en eux, l’homme est miroir pour l’homme. (M. Merleau-Ponty: L’Œil et l’esprit, Paris 1961, S. 33)
Es ist kein Zufall, wenn oft, in der holländischen Malerei (und in vieler anderer), ein verlassenes Interieur verschluckt wird vom runden Auge des Spiegels. Dieser vormenschliche Blick ist das Sinnbild desjenigen des Malers [oder des Betrachters im allgemeinen]. Vollständiger als die Lichter, die Schatten, die Reflexe deutet das Spiegelbild in den Dingen die Arbeit des Sehens an. [...]
Der Spiegel ist im offenen Umkreis des sehenden Körpers zum sichtbaren Körper geworden. [...]
Der Spiegel erscheint, weil ich sehend-sichtbar bin, weil es eine Reflexivität des Sinnlichen gibt, er übersetzt und verdoppelt sie. Durch ihn vervollständigt sich mein Äußeres, alles, was ich an Verschwiegenstem habe, geht ein in dieses Gesicht.
[...] Das Phantom des Spiegels zieht meinen Leib nach außen. Und zur selben Zeit kann das ganze Unsichtbare meines Körpers die anderen Körper, die ich sehe, besetzen. Von nun an kann mein Körper Teilstücke anderer Körper enthalten, kann meine Substanz in sie eingehen, da der Mensch des Menschen Spiegel ist.