Things sinkin’ with a melody — Big Stars Third (2022)
Der vielbeschworene Sinn unseres Lebens – ist dann doch wohl die Liebe zweier Menschen zueinander. Das heißt nicht, dass alle, die, aus welchen Gründen immer, der Nähe eines geliebten und zurückliebenden Menschen ermangeln, ein buchstäblich Sinn-loses Leben führen. Aber es ist, mal für kürzere, mal für längere Zeit, die in der und durch Liebe mögliche konkrete Erfahrung gegenseitigen Angenommenseins, die uns auf eine höhere Ebene eleviert (oder zu elevieren scheint). Sagen wir vielleicht so: In dem Maß, wie der Wunsch nach einem erfüllten Leben uns beseelt und es vor allem anderen die Nähe eines geliebten, zurückliebenden Menschen ist, die uns das Gefühl gibt (oder in uns die Illusion erzeugt), ein erfülltes Leben zu leben, in eben diesem Maß finden wir in der Liebe den Sinn unserer Existenz.
Je intensiver die Erfahrung (oder die Illusion), in einer und durch Liebe zu einem vollständigen Menschen geworden zu sein, desto größer die emotionale Fallhöhe. Je intensiver das Gefühl (oder die Illusion), in einer und durch Liebe zu sich selbst gefunden zu haben, desto schmerzhafter ihr Verlust. Der Stoff zahlloser Kalendersprüche. Und zugleich der der größten Kunstwerke. In der Tat: Was wäre die Kunst, was wäre namentlich deren kommerzielle, weniger ambitiöse Schwester: die Kulturindustrie, ohne die immerinteressante Dialektik von Liebesfreud und Liebesleid? Statistiken habe ich nicht parat, verwette aber mein Exemplar von Complete Third darauf, dass das Thema der zwischenmenschlichen Liebe, mit all ihren Wonnen und Qualen, in der sog. hohen Kunst, im sog. U-Bereich ohnehin, quantitativ die erste Stelle einnimmt. Was die Kulturindustrie, die sog. U-Sphäre, betrifft: Hier verdienen grundsätzlich jene Hervorbringungen besondere Aufmerksamkeit, deren Qualität und Intensität das gewöhnliche, meist eher bescheidene, Niveau und die Grenze zur Kunst überschreiten. Besondere Aufmerksamkeit nicht zuletzt, weil die Verwertungslogik der Kulturindustrie es originellen Köpfen so schwer macht, aus bekannten Bahnen auszubrechen und der Strategie des kleinsten gemeinsamen Nenners zu entkommen. (Dies im Gegensatz zur sog. hohen Kunst – deren notwendige Voraussetzung und raison dʼêtre die bewusste Überwindung des kleinsten gemeinsamen Nenners ist.)
Wenige, sehr wenige Werke der sog. U-Musik (und der sog. E-Musik) eröffnen tiefere Einblicke in das psychologische Drama einer scheiternden Liebesbeziehung als Third (1974/1975/1978) – nominal Big Stars dritte, letzte LP, de facto Alex Chiltons Solo-Debüt. Third ist ein (autobiographisches) Konzeptalbum in der ersten Person. Sein Gegenstand: das Liebesfiasko einer von allen guten Geistern verlassenen Person (= Alex Chilton). Zweierlei macht Third zu einem Album sui generis. Erstens die Art und Weise, wie die mentale Auflösung des Protagonisten musikalisch sich widerspiegelt: in Song-Gebilden, die entweder stets auseinanderzufallen drohen oder wirklich implodieren. (Das bedenklich überstrapazierte Wort Dekonstruktion trifft hier ausnahmsweise einmal zu.) Zweitens der bemerkenswerte Umstand, dass das Konzept der LP – die keinen offiziellen Titel hat und nie mit einer offiziellen Sequenzierung veröffentlicht worden ist – nur zutage tritt, wenn man die Songs in eine bestimmte Reihenfolge bringt. In der Pop- und Rock-Musik sind solche philologischen Mühen und Verfahren sehr selten vonnöten (spielen Fragen, deren Beantwortung philologischer Instrumente bedarf, kaum eine bis keine Rolle.) Im Fall von Third verhält es sich aber in der Tat so, dass man, um das Narrativ zum Vorschein zu bringen, eine philologische Rekonstruktion vornehmen muss. Mit ziemlicher Sicherheit war weder Chilton noch seinem Produzenten Jim Dickinson klar, dass die Songs, in der sozusagen richtigen Abfolge, die vollständige Chronik einer doomed relationship ergeben. Eigentlich verdiente Big Stars Third – lies: Alex Chiltons First – eine Untersuchung in Monographielänge. Einstweilen nur die folgende Zusammenfassung. In aller Unbescheidenheit möchte ich behaupten, damit die Ungereimtheiten, die aus der komplizierten Entstehungs- und Veröffentlichungsgeschichte des Albums resultierten, beseitigt zu haben.
Die korrekte Song-Sequenz des Albums lautet:
1. Jesus Christ: Jesus Christus als Symbol der Liebe; die Zeit der Liebe bricht an, eine unerwartete neue Liebe nimmt ihren Anfang (Eine neue Liebe ist wie ein neues Leben heißt es in einem BRD-Schlager aus den 70ern).
2. Blue Moon: Treueschwur, das Versprechen ewiger Liebe.
3. Stroke It Noel: Glückliche Zeiten (aber nicht, ohne eine gewisse Ahnung zu haben: Will they come / Oh, the bombs?).
4. Nighttime: Der Protagonist will etwas unternehmen, sein Freundin, Lesa, eher nicht, sie will ihn für sich haben – anscheinend, ohne zu Zugeständnissen bereit zu sein.
5. You Can᾽t Have Me: Der Protagonist erkennt, dass seine Beziehung mit Lesa einseitig ist, dass sie, Lesa, mehr fordert, als sie zu geben bereit ist.
6. O, Dana: Der Protagonist sucht Ablenkung bei und durch Dana. Allein, Dana will nicht: Sie durchschaut, dass sie bloß ein Lesa-Surrogat darstellt.
7. Kizza Me: Schrei nach Lesas Liebe und Nähe. Er verhallt unbeantwortet. Der Protagonist kann und will nicht mehr (That᾽s enough, baby!).
8. Kanga Roo: Flashback, Erinnerung, Sehnsucht. Die Liebe zu Lesa ist noch nicht erloschen. Der Protagonist wünscht sich an den Anfang zurück.
9. Holocaust: Der Tiefpunkt der Beziehung. Zwei einander ergänzende Lesarten sind möglich. Der Protagonist betrachtet sich und realisiert, am Ende zu sein; er sieht, dass fast alles Leben aus ihm gewichen ist. Beziehungsweise: Der Protagonist betrachtet Lesa und realisiert, dass sie ihm alle Kraft und alles Leben raubt.
10. Big Black Car: Flucht, Resignation, Distanzierung, Regression.
(11. Femme Fatale: Der Protagonist meint, das Spielzeug einer femme fatale gewesen zu sein.) (In Klammern, weil Femme Fatale kein Originalsong ist und auch weggelassen werden könnte.)
12. Take Care: Zögerlicher, doch endgültiger Gib auf dich acht-Abschied.
13. Thank You Friends: Sarkastischer (zynischer?) Dank an die sog. lieben Freunde – die den Protagonisten im Stich gelassen haben, als er sie am meisten gebraucht hätte.