Zur Einstimmung ein probates Zitat aus Thomas Pynchons Roman Bleeding Edge (New York 2013, S. 163): „Late capitalism is a pyramid racket on a global scale, the kind of pyramid you do human sacrifices up on top of, meantime getting the suckers to believe it’s all gonna go on forever.“
Warum bagatellisieren oder leugnen so viele Köpfe, die das, was sie als (ihre) Freiheit bezeichnen, höher bewerten als den Schutz ihrer Mitmenschen, die COVID-Pandemie? Der Gründe sind viele: Dummheit, Realitätsverleugnung, Informationsmangel, Unfähigkeit zu vernünftiger Überlegung, selbstzweckhafter Nonkonformismus, Indolenz, Niedertracht, Verhöhnung alles scheinbar Schwachen und Todessehnsucht. Gibt es hier einen Generalnenner? Den gibt es, und er liegt im Verhältnis der Menschen zum Kapitalismus.
Die neoliberale Spielart des Kapitalismus hat mit ihrem Wettbewerbs- und Performancewahn derart viele Menschen infiziert, dass es unmöglich geworden ist, gesellschaftliche Ausnahmesituationen, die konzertierte, solidarische Anstrengungen erfordern, unter Kontrolle zu bekommen. Der Neoliberalismus ist der Zauberlehrling, der den Geistern, die er beschwört – Freiheitsapostelei, Eigennutzsucht –, nicht gewachsen ist. Der freiheitliche Unwille, Konzessionen zugunsten des Allgemeinwohls zu machen, das survivalistische Härteprinzip, ist zur zweiten Natur geworden, und nicht mal planetare Desaster können den Selbstregulierungsirrglauben des Spätestkapitalismus erschüttern.
Sich von einem Virus in seiner Freiheit betroffen zu wissen, ist dem homo neoliberalis eine einzige Zumutung. Rücksichtnahme heißt ihm Schwäche. Schwäche, das weiß der homo neoliberalis, ist etwas, das er sich nicht erlauben darf. Selbst ein bereits neoliberal zugerichteter Staat, der sich in der Pandemie zögerlich und mehr schlecht als recht anschickt, die schwächeren seiner Bürger noch zu schützen, weckt den Zorn des homo neoliberalis. Nichts dürfe der Freiheit und der Selbstverwirklichung im Wege stehen. Selbst ein bereits neoliberal zugerichteter Staat, der versucht, der Pandemie beizukommen, um schnellstmöglich den status quo ante wiederherzustellen – und dabei für einen Augenblick mit der Freiheit seiner Bürger, sich vom Kapitalismus zum Narren halten zu lassen, kollidiert –, weckt einen Hass, der desto bemerkenswerter ist, als er das unvermeidliche Pendant jenes unbewussten Selbsthasses ist, den der kapitalistisch-neoliberale Zwang, sich in permanente Selbstunternehmer zu verwandeln, auslöst. Mehr noch: Die Haltung der Covidioten, die Seuche nicht ernst und die Krankheit und den Tod von Mitmenschen in Kauf zu nehmen, folgt aus dem unbewussten Selbsthass insofern, als er durch eine Projektion auf diejenigen ausgelagert wird, die sich dem Imperativ, keine Schwäche zu zeigen, temporär nicht unterwerfen. Die unbewusste Projektion des Selbsthasses auf die sog. Coronagläubigen ist verknüpft mit dem Wunsch, sie über die Klinge springen zu lassen. Im Kapitalismus bedeutet Stärke in Wirklichkeit, sich selbst, nämlich menschliche Regungen wie Empathie, Altruismus, Gerechtigkeitsgefühl und Wohlwollen, zugunsten des ökonomischen survival of the fittest aufzugeben. Aus dieser Verdrängung entsteht der Hass auf sich selbst, der im Wunsch, die Schwachen zu opfern, sein Ventil findet. Was der vollständig neoliberal konditionierte Zeitgenosse sich selbst versagt, will er bei denen, die einen Rest von Empathie und Menschlichkeit aufrechterhalten, unter keinen Umständen dulden. Die sog. Coronagläubigen weigern sich angesichts der Pandemie scheinbar, in den Kapital über alles!-Refrain einzustimmen, und bereits das genügt, das Ressentiment der sich entmündigt fühlenden Freiheitsfanatiker zu wecken – deren Mündigkeit und Freiheit ohnehin bloß darin besteht, sich und einander dem Kapital anzubieten und dies für einen Akt der Autonomie zu halten.
Wie das enden wird? Kurzfristig:
mit noch mehr unnötigen COVID-Opfern (die bei den Freiheitsfetischisten als unvermeidbarer Kollateralschaden zu Buche schlagen werden); mittelfristig:
mit gesellschaftlicher und moralischer Zerrüttung (die die Freiheitsfetischisten als gleißenden Sieg des unantastbaren Individuums über einen paternalistischen Staat deuten werden); langfristig:
mit dem Umwelt- und Klimakollaps (den die Freiheitsfetischisten auf ein Zuwenig an
Freiheit
zurückführen werden).