Lévi-Strauss’ als Philosoph

Lévi-Strauss’ als Philosoph


Claude Lévi-Strauss’ Strukturalismus als Philosophie (2012)


Die Philosophie ist objective Wissenschaft der Wahrheit, Wissenschaft ihrer Nothwendigkeit, begreiffendes Erkennen, kein Meynen und kein Ausspinnen von Meynungen.

G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie (1816)


Der große Philosoph hält sich im Wunder der Welt, im Labyrinthe voll unzähliger Zimmer halb über, halb unter der Erde auf. Von Natur hasset der talentvolle Philosoph, sobald er seine Philosophie hat, alles Philosophieren; denn nur der Freie liebt Freie.

Jean Paul, Vorschule der Aesthetik (1804)


Claude Lévi-Strauss holistischer Strukturalismus operiert in einem Schnittfeld von Szientismus und Ästhetizismus. Worin besteht, da er zwischen gleichsam reiner Wissenschaft und ästhetico-logischem Diskurs changiert und beidem gerecht zu werden sucht, sein Erkenntniswert? Meine Antwort lautet: Sein Erkenntniswert besteht darin, (wider Willen) eine neue Philosophie zu entwickeln. Philosophie entsteht, wenn (bzw. sobald) dem Denken es unbeabsichtigt oder vorsätzlich gelingt, simultan vier Grundbedingungen zu verwirklichen: Gegenstandsanalyse, Reflexivität, Konkretion, Inventivität.


Die Gegenstandsanalyse ist jene Erkenntnisarbeit, in der und durch die wir Dinge, Erfahrungen, Sachverhalte, intelligible und empirische Entitäten, Begriffe auf ihre Entstehungs- bzw. Möglichkeitsbedingungen hin und in ihren jeweiligen Zusammenhängen untersuchen. (So daß zur Analyse immer auch die Synthese gehört).


Reflexivität meint hier eine intellektuelle, begriffliche Tätigkeit, in der und durch die wir die intra- und extramentale Wirklichkeit einer qualitativen Prüfung unterwerfen, sie qualitativ einordnen, klassifizieren, bewerten usw. In dieser und durch diese Tätigkeit setzen wir Ich (Innen) und Welt (Außen) im Hinblick darauf in Beziehung, welche ideellen (intelligiblen) und materiellen (empirischen) Kräfte das theoretische und praktische Verhältnis des Ichs zur Welt formen. 


Der Ausdruck Konkretion bezieht sich auf die Fähigkeit, intelligible oder empirische Gegebenheiten umzugestalten, sie in andere Maßstäbe zu übersetzen oder um weitere Parameter zu ergänzen – was impliziert, sich der Modi und Grenzen ihrer Veränderbarkeit bewußt zu werden, und dadurch zugleich: der Reichweite und Wirkung des eigenen Vorgehens.


Inventivität ist das Vermögen, Neues bzw. bisher nicht Gekanntes hervorzubringen. Von der Konkretion, die im Rahmen objektiver Gegebenheiten der Notwendigkeit mit schöpferischer Freiheit begegnet, unterscheidet Inventivität sich dadurch, daß in ihr und durch sie schöpferische Freiheit als Notwendigkeit auftritt.


Fehlt eine dieser Grundbedingungen, handelt es sich nicht um Philosophie, sondern um Wissenschaft (in Gestalt von Geistes-, Sozial-, Technik- oder Naturwissenschaften einschließlich Logik und Mathematik) oder um Kunst (in Gestalt von bildender Kunst, Literatur, Musik).


Lévi-Strauss ist kein Freund der Philosophie. Daß sein Strukturalismus keine neue Gestalt von Philosophie begründet, folgt daraus nicht. Sehen wir zu, inwieweit sein Denken jene vier Grundbedingungen erfüllt.


In der und durch die Gegenstandsanalyse gelangt Lévi-Strauss zur Ebene der Struktur(en). Er zeigt auf, daß man diese Ebene, auf der sich die Möglichkeitsbedingungen dessen, was ist, enthüllen, nicht durch Beobachtung erreicht. Erst die Analyse empirischer Objekte/Wirklichkeiten auf einem nichtempirischen Level (mit Hilfe von Modellen) enthüllt ihre eigentliche Seinsweise: ihre strukturelle binär-differentielle, reziprok-dialektische Interdependenz.


Das Moment der Reflexivität ist verbunden mit dem Begriff der Information (im Sinne der Informationstheorie). Eine Perspektive der ersten Person Singular bzw. Plural kann sich nur entwickeln, weil wir, individuell und kollektiv, in der Sphäre einer geteilten gesellschaftlichen Wirklichkeit leben. (Solipsisten gehören, wie bereits Schopenhauer bemerkte, ins Tollhaus). Weil und indem wir auf dem Hintergrund einer geteilten gesellschaftlichen Wirklichkeit kommunizieren, sind wir fähig, auf uns selbst zu reflektieren und über unser Verhältnis zur Welt Klarheit zu gewinnen. Kommunizieren bedeutet Informationen austauschen – die, so Warren Weaver, ein Maß für die Freiheit der Auswahl einer Nachricht sind. Das bedeutet auch: ein Maß dafür, inwieweit eine Person oder ein Kollektiv von dieser Freiheit Gebrauch macht, um das Ich bzw. Wir einerseits und Welt andrerseits in Beziehung zu setzen. Informationen, würde Lévi-Strauss sagen, sind semiotische Spielmarken, die ihren materiellen Ankerpunkt in den äußeren Zwängen der Infrastruktur (Basis) haben. Mit Hilfe dieser Spielmarken bildet der menschliche Geist Bedeutungs- und Symbolsysteme (z. B. die berühmte Logik der pensée sauvage), um extramentale Widerstände im intramentalen Modus der Reflexivität aufzulösen.


Die Konkretion finden wir im Zusammenhang mit dem Modell-Begriff. Lévi-Strauss beabsichtigt, die sozusagen wahre Wirklichkeit bestimmter empirischer Objekte oder Erscheinungen zu erfassen, indem er sie in vereinfachten Modellen ab- oder nachbildet. Diese Modelle zeigen die wahre Wirklichkeit insofern, als sie jene prä-empirischen Strukturen ins Licht stellen, die dem immanieren, was wir Welt nennen; sie (die Modelle) ermöglichen, diese Wirklichkeit heuristisch handhabbar zu machen und zu analysieren.


Die Grundbedingung der Inventivität finden wir schließlich in der Art und Weise, wie Lévi-Strauss sich heterogener Konzepte, Darstellungs- und Ausdrucksmittel bedient, sie gewissermaßen diskursiv kurzschließt, um seiner Aufgabe und seinem Ziel der Beschreibung und Erklärung der inneren Organisation bzw. Struktur symbolischer Ordnungen zu genügen. Clifford Geertz bezeichnete das daraus resultierende polyphone Mit-und Nebeneinander verschiedener Techniken und Methoden als Moiré. Wir schlagen vor, damit das Kriterium der Inventivität erfüllt zu sehen. Sie ist gleichsam der Glutkern der Lévi-Straussschen Suche nach einer universalen Systematik, die die Wissenschaften vom Menschen mit den sog. harten oder exakten Wissenschaften versöhnt und nicht zuletzt auch die ästhetische(n) Dimension(en) der condicio humana einschließt und würdigt.



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