Wagner mit Lévi-Strauss

Wagner mit Lévi-Strauss


Richard Wagners Rheingold – mit Claude Lévi-Strauss als Mythos betrachtet (2013)


Dass und wie Claude Lévi-Strauss sich von Erscheinungen aus dem Bereich der Ästhetik inspirieren ließ (s. auf dieser Website auch hier), wird vor allem mit Blick auf Richard Wagner und dessen Leitmotiv-Technik deutlich. Wagner, der sie nicht erfunden, aber in seiner Tetralogie Der Ring des Nibelungen zur Vollendung entwickelt hat, bedient sich dieser Technik, um das Geschehen – die handlungsbestimmenden Personen, Ereignisse, Dinge, Ideen, Befindlichkeiten, Gefühle – durch kurze melodische, harmonische und rhythmische Klang-Gestalten zu kommentieren und zu illustrieren. Anders gesagt: Die Leitmotive bilden unter-, mit- und gegeneinander ein musikalisches und Bedeutungsnetz, das die Handlung trägt, verbindet, erhellt.


Für Lévi-Strauss ist Wagner der „unabweisbare Vater der strukturalen Analyse der Mythen“. Dies deshalb, weil dessen Partituren DIE Struktur DES Mythos offenlegten. Oder umgekehrt: Die Analyse eines Mythos enthülle eine Art Partitur, deren kleinste narrative Einheiten, die Mytheme, den Wagnerschen Leitmotiven entsprächen. Die Struktur der Mythen bestehe aus thematisch und dramaturgisch zusammengehörigen Motiv- oder Beziehungsbündeln = Mythemen, die, wie die Leitmotive, ein komplexes narratives Gefüge ergäben. 


Ob Lévi-Strauss recht hat, wenn er Wagner als Erfinder der strukturalen Mythen-Analyse bezeichnet, sei dahingestellt. (Wir meinen: Lévi-Strauss ist der Erfinder der strukturalen Mythen-Analyse.) Was uns interessiert, ist, ob Lévi-Strauss᾿ Methode der Mythos-Analyse, deren Prototyp er in der Leitmotiv-Technik erkennt, auf Wagners Werk selbst anwendbar ist. Wäre dies der Fall, spräche das für die Universalität des Lévi-Straussschen Ansatzes. Erproben wir also Lévi-Straussʼ Methode an Wagners Rheingold. (Zur Lévi-Straussschen Mythen-Analyse als solcher: La Structure des mythes. In: Anthropologie structurale. Paris 1958, S. 227–255. (Die Struktur der Mythen. In: Strukturale Anthropologie I. Frankfurt a. M. 1977, S. 226–254.))


Erster Schritt: Wir rekapitulieren die Handlung in möglichst kurzen Sätzen und nummerieren diese Einheiten chronologisch:


(1) Die Rheintöchter necken Alberich.

(2) Alberich entsagt der Liebe.

(3) Walhall ist errichtet.

(4) Fafner und Fasolt fordern Freia.

(5) Wotan sucht die Riesen zu übervorteilen.

(6) Loge stiftet Wotan an.

(7) Fafner und Fasolt fordern das Rheingold.

(8) Wotan und Loge rauben Gold und Ring.

(9) Erda warnt Wotan.

(10) Fafner erschlägt Fasolt.

(11) Einzug in Walhall.


Zweiter Schritt: Wir ordnen diese Einheiten, indem wir inhaltlich-thematisch verwandte Sätze untereinander notieren, aber gleichzeitig, von links nach rechts, die Reihenfolge des Geschehens einhalten:

Wagner mit Lévi-Strauss
Wagner mit Lévi-Strauss

Dritter Schritt: Wir finden in der ersten Spalte (von oben unten) Ereignisse, deren gemeinsamer Zug eine Form oder Wirkungsweise von Macht bzw. Machtverhältnissen ist:


a) Die Rheintöchter haben zunächst Macht über Alberich, weil er auf sie versessen ist, sie aber nicht auf ihn. Sie verlieren diese Macht in dem Augenblick, in dem Alberich der Liebe entsagt, sich der Möglichkeit begibt, sich in der und durch die Liebe zu verwirklichen.

b) Alberichs Machtposition erlaubt es Wotan, Fafner und Fasolt zu provozieren. Er büßt seine Macht langsam ein, weil er wider die eigenen Gesetze handelt.

c) Loges Macht über Wotan ergibt sich aus seiner, Loges, Listigkeit, aus Loges Fähigkeit, Widerstände aufzuheben. Loge ist das, was Mythen-Forscher einen trickster nennen. Begrenzt ist seine Macht allerdings in dem Maß, wie er nirgends dazugehört.


In der zweiten Spalte (von oben nach unten): Ereignisse, deren gemeinsamer Zug eine Form oder Wirkungsweise von Ohnmacht ist, resp. eine Form oder Wirkungsweise von Beziehungen, deren Merkmal in der Negation einer Ordnung besteht:


a) Aus Kränkung über die Zurückweisung durch die Rheintöchter – und aus dieser Ohnmacht heraus – verzichtet Alberich darauf, Liebe zu finden.

b) Wotan und Loge rauben das Gold und den Ring – sie negieren eine Ordnung –, weil sie keine andere Möglichkeit sehen, ihre Ziele zu erreichen.

c) Fafner ist dem Fluch verfallen und erschlägt seinen Bruder Fasolt. Die mit dem Gold verbundene Macht ist in Wirklichkeit eine Ohnmacht. 


In der dritten Spalte (von oben nach unten): Sowohl Ereignisse, deren gemeinsamer Zug in der Aufforderung besteht, das Gesetz bzw. die Ordnung zu achten, als auch Verhältnisse, deren Legitimität in Gefahr ist:


a) Fafner und Fasolt fordern die Einlösung des Vertrags.

b) Fafner und Fasolt fordern ein weiteres Mal, dass Wotan sein Versprechen einhalte.

c) Erda warnt Wotan davor, das Gesetz zu brechen bzw. die Ordnung zu zerstören. 


In der vierten Spalte (von oben nach unten): Ereignisse, deren gemeinsamer Zug darin besteht, sich einem auf Lug und Trug aufgebauten Vertragssystem zu verdanken:


a) Die Errichtung Walhalls verdankt sich einem falschen Versprechen.

b) Der Einzug in Walhall ist ein Pyrrhussieg.


Es ergibt sich das folgende Beziehungsgefüge:


Macht : Ohnmacht :: Gesetz : Schuld


Die Ereignisse der ersten Spalte verhalten sich zu denen der zweiten Spalte so, wie die Ereignisse der dritten Spalte sich zu denen der vierten verhalten:


Macht verhält sich zu Ohnmacht wie das Gesetz (oder die Ordnung) zu Schuld.


Fazit: Wagners Rheingold thematisiert die Dialektik von Klassenbande und Verhängnis, insofern die Repräsentanten der drei Klassen – Naturwesen, Bewohner in und auf der Erde, Götter – sich in unüberwindliche Probleme und Gegensätze verstricken. Allein der trickreiche Loge ist als Wandler und Vermittler zwischen den Klassen und Welten davon ausgenommen.


Vierter Schritt: Folgende Leitmotive illustrieren/kommentieren die inhaltlichen resp. strukturellen Beziehungen/Verhältnisse:

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