Tiere habenʼs leicht(er). Sie finden, evolutionär determiniert, ihren Platz in ihrer (Um)Welt instinktiv. Dem Menschen hingegen – evolutionär gemodelt, aber nicht determiniert – fehlt das instinktive Wissen, was wann wie zu tun sei. Er kompensiert diesen Mangel durch das, was man als Kultur bezeichnet. Ohne sie könnte er nicht überleben. (Weshalb er lieber und nicht selten mit aller Gewalt an den Objekten seiner kulturellen Identität festhält, als Orientierungs- und Hilflosigkeit zu riskieren.)
Menschen formen und regulieren ihr Verhalten in der Welt zur Welt – sie verhalten sich in ihr zu ihr –, indem sie, um einen Begriff von G. Deleuze und F. Guattari aufzunehmen, Ritornelle generieren: das Material der Welt strukturierenden = Chaos in Ordnung verwandelnden semiotischen Markierungen und Transformationen folgen, die, in einer labil erscheinenden (Um)Welt Stabilität und Sicherheit stiftend, gegen weitere chaotische Gefährdungen schützen. Beispiel: „Un enfant dans le noir, saisi par la peur, se rassure en chantonnant. Il marche, sʼarrête au gré de sa chanson. Perdu, il sʼabrite comme il peut, ou sʼoriente tant bien que mal avec sa petite chanson. Celle-ci est comme lʼesquisse dʼun centre stable et calme, stabilisant et calmant, au sein du chaos.“ (Mille plateaux, Paris 1980, S. 382) [„Ein Kind in der Nacht, gepackt von der Angst, beruhigt sich, indem es vor sich hin singt. Es geht weiter, es hält an im Einklang mit seinem Lied. Hat es sich verlaufen, schützt es sich, so gut es kann, durch sein kleines Lied, oder es orientiert sich an ihm, so gut es geht. Sein kleines Lied ist so etwas wie der Entwurf eines stabilen und ruhigen, eines stabilisierenden und beruhigenden Zentrums mitten im Chaos.“] Allgemeiner: Ein Ritornell „agit sur ce qui lʼentoure […] pour en tirer des vibrations variées, des décompositions, projections et transformations. [Die Funktion eines Ritornells ist] non seulement augmenter la vitesse des échanges et réactions dans ce qui lʼentoure, mais assurer des interactions indirectes entre éléments dénués dʼaffinité dite naturelle.“ (Ebd., S. 430) [Ein Ritornell „wirkt ein auf das, was es umgibt […], um daraus verschiedene Schwingungen, Gliederungen, Übertragungen und Veränderungen zu gewinnen.“ Die Funktion eines Ritornells besteht nicht nur darin, „in dem, wovon es umgeben ist, die Austausch- und Reaktionsgeschwindigkeiten zu verstärken, sondern auch darin, indirekte Wechselwirkungen zwischen Elementen zu gewährleisten, die einer natürlichen Affinität entbehren.“] Ritornelle bannen die Kräfte des Chaos insoweit, als sie durch „une activité de sélection, dʼélimination, dʼextraction“ – durch eine Tätigkeit der Auswahl, der Verdrängung, der Ausklammerung – einen als sicher empfundenen „espace intérieur“, einen inneren Raum, zeitigen (ebd.).
Ritornelle gibt es überall. In jeder Abgrenzung eines Innen von einem Außen, in jedem Sprung „du chaos à un début dʼordre dans le chaos“ (ebd., S. 382) – in jedem Sprung aus dem Chaos zu einem Beginn von Ordnung im Chaos –, erkennen wir ihren dreifachen Effekt: Markierung, Zentrierung/Strukturierung, Codierung. Ein besonders häufig auftretendes Ritornell des Alltags – bei Deleuze und Guattari findet sich dieses Beispiel nicht – ist das Erstellen von Listen. Listen ordnen/strukturieren Welt durch Ex- und Inklusion. Sie geben denen, die sie anfertigen, das Bewusstsein, ein Mittelpunkt zu sein (die Befriedigung, einen Mittelpunkt zu setzen). Sie etablieren eine Hierarchie semiotischer Codes. Im besten Fall verhelfen Listen zur Orientierung, dienen sie als Mittel, Welt zu de-chaotisieren. Im schlechtesten Fall sind sie Zeugnisse einer Pathologie: eines gestörten Verhältnisses zur Wirklichkeit bzw. einer forcierten Anpassung an eine gestörte Wirklichkeit.
Im Grunde handelt es sich bei den Ritornellen um Modi des In-der-Welt-Seins. Ritornelle sind mit ihrer Umgebung verbunden, sie gewinnen aus ihr ihre Struktur. Sie erlauben, sich der Welt zu adaptieren und deren Möglichkeiten zu explorieren. Aber was, wenn die Welt, an die man sich anzupassen, deren Möglichkeiten man zu explorieren sucht, verrückt geworden ist? Dann werden auch die Modi des In-der-Welt-Seins Anzeichen der Verrücktheit aufweisen. Wenn die Welt, in der man steht, es einem schwer macht, vernünftig auf sie zu reagieren, gerät man nolens volens ins Gravitationsfeld des Pathologischen.
Die zwanghafte, exzessive Fixierung auf Listen – die fixe Idee, sich in der Welt zu ihr primär durch das Ritornell
Liste verhalten zu können – ist das Symptom einer pathologischen Störung. Die zwanghafte, exzessive Fixierung auf Listen ist ein semio-systemisches Hauptmerkmal der Gegenwart. Also steht die Gegenwart im Zeichen pathologischer Verhältnisse. Eine Gesellschaft, der es als ausgemacht gilt, dass das, worüber sie nachzudenken hätte, sich mittels Listen und
rankings fokussieren lasse, ist verrückt geworden. Die Liste, das
ranking, scheint heute als die letzte verbliebene Möglichkeit zu gelten, die Vielfalt der Wirklichkeit in eine synthetische Einheit zu bringen. Das Erstellen von Ranglisten hat das Denken in Begriffen so gut wie vollständig ersetzt. Das Listenmachen ist zur vorherrschenden Form des Weltzugriffs, die Liste, das
ranking, zum Ritornell aller Ritornelle geworden. Kein Phänomen bleibt von der Manie verschont, sich dadurch in ein Verhältnis zu ihm setzen, dass man es listet,
rankt. Einer Sache auf den Grund gehen bedeutet nurmehr, sie in eine Rangliste aufzunehmen, einzureihen. Die Rangliste, kann man sagen, ist das System der dummen Kerle. Was sie, ohne sich darüber im Klaren zu sein, tun, ist, Dinge, Eigenschaften, Tätigkeiten, Verhaltensweisen daraufhin zu evaluieren, ob und inwieweit sie den Maßstäben einer pathologischen Welt standhalten. Diese Welt, in der man sich Stabilität und Sicherheit dadurch verschafft, dass man Ranglisten erstellt – in der allein das Ritornell
Liste Stabilität und Sicherheit stiftet –, ist die dümmste aller möglichen Welten. Sich in der Welt zu ihr so zu verhalten, dass man sie darauf reduziert, Material für Ranglisten zu liefern, entspricht ganz dem im Neoliberalismus geltenden Verhältnis von Teil und Ganzem. Die Pathologie des Ritornells
Liste folgt einer Logik, nach der es möglich sei, Teile zu bestimmen, ohne um das Ganze zu wissen, und ein Ganzes überhaupt nur dann eine Rolle spiele, wenn es dem Einzelnen einen Vorwand gibt, etwas für sich herauszuholen.