E-Musik-Kritik ist allein unter zwei Voraussetzungen brauchbar. Zum einen dann, und nur dann, wenn den Kritikern die Werke, deren Aufführungen sie zu beurteilen sich erlauben, durch eigenes Partiturstudium bekannt sind. Zum anderen dann, und nur dann, wenn die Kritiker, im Fall gängiger Repertoirestücke, den Wert einer Interpretation einzuschätzen wissen, weil sie die jeweiligen Aufführungstraditionen und -usancen überblicken. Als Theater-Kritiker kann man die Aufführung eines, sagen wir, Shakespeare-Dramas nur dann angemessen beurteilen, wenn man den (Original)Text kennt und bereits mehrere Inszenierungen des Stücks gesehen hat. Als Musik-Kritiker kann man die Aufführung einer, sagen wir, Mahler-Symphonie nur dann angemessen beurteilen, wenn man die Partitur kennt und mit den gängigen Interpretationen vertraut ist. Keine Ahnung, wie es 2022 um Theater-Kritik steht. Klar ist jedoch, dass eine ernst zu nehmende E-Musik-Kritik nicht mehr existiert. Das hat mehrere Gründe – Kompetenzschwund, zunehmender Mangel an Tiefe, abnehmendes intellektuelles Interesse, Zeitdruck, ein allgemeiner Verlust von Maßstäben –, zeigt sich aber vor allem darin, wie nahezu alle E-Musik-Rezensionen Geschwätz ohne jeden Erkenntnisgewinn bieten.
Was die sog. Stars der E-Musik-Branche betrifft, greifen dieselben Regeln wie in den U-Bereichen der Kulturindustrie (von Pop-Musik bis Film). Das Publikum wünscht sich Stars, die Industrie befriedigt diesen Appetit. Oder ist es die Industrie, die Stars verkaufen will und das Publikum darauf hin konditioniert? Vermutlich beides. Wenn das Publikum versessen ist auf Stars, ist die Industrie allzu bereit, diesem Wunsch, indem sie ihn künstlich nährt, nachzukommen. Dabei gilt, natürlich: Je jünger und fotogener, desto besser. Das neueste, von diversen Marketing-Abteilungen lancierte, Dirigentenwunder – ein Reklamebegriff, der seit dem sog. Wunder Karajan im Feuilletonsprech fest verankert ist – heißt Klaus Mäkelä. Dass der nicht unbegabt ist, scheint zuzutreffen. Dass ihn die Orchester, die er dirigieren darf, mögen, soll wohl stimmen. Also ist Mäkelä so gut wie der Ruf, der ihm vorauseilt? Wird die musikalische Realität den von Marketing-Abteilungen geschürten Erwartungen gerecht? Sicher nicht. Bezeichnend vielmehr ist, dass die E-Musik-Kritik an der Aufgabe scheitert, ein objektives Bild zu geben – denn das würde, wie gesagt, voraussetzen, vertraut zu sein mit den Partituren der aufgeführten Werke und mindestens einer Handvoll Referenzeinspielungen.
Im Rahmen einer kleinen Tournee führte vor Kurzem das für seine Mahler-Tradition bekannte Concertgebouworkest Amsterdam unter der Leitung seines designierten Chefs Mäkelä Mahlers 6. Symphonie auf. Das Berliner Konzert wurde im Radio übertragen. Eine willkommene Gelegenheit, sich ein Urteil zu bilden. Tatsächlich gibt es wenige Stücke, die geeigneter wären als Mahlers Sechste, um die Leistungsbereitschaft und -fähigkeit von Orchestern wie Dirigenten auf die Probe zu stellen. Was nicht so oberflächlich gemeint ist, wie es klingt. Im Gegenteil. Die Sechste, diese „makrograph notierte Formel für einen unbekannt-dimensionalen Kosmos mit einer Katastrophe als Zentrum“ (Hans Wollschläger), exorziert jede philharmonische Gemütlichkeit. Sie sollte, wenn überhaupt ein Werk von Mahler, denen vorbehalten bleiben, die seine Werke nicht nur deswegen dirigieren, weil es, wie beim Concergebouworkest, Teil eines Anforderungsprofils ist. Nur wer an der höheren Wahrheit dieser Musik interessiert ist, sollte daran denken, sie aufzuführen. Was wiederum nicht so esoterisch gemeint ist, wie es klingt. Ob Dirigenten die höhere Wahrheit eines Werkes wie der Sechsten in sich aufgenommen haben, erweist sich daran, in welchem Umfang sie den musikalischen Herausforderungen der Partitur gerecht werden. Nichts ist lächerlicher als die Kritiker-Routine, Aufführungen, die objektiv hinter den Maßgaben des Notentextes zurückbleiben, phrasenreich zu bescheinigen, den Geist der Komposition getroffen zu haben. Als ob der Geist der Komposition je etwas anderes sein könnte als eine – zugegeben meta-physikalische – Eigenschaft des Notentextes.
Wie zu erwarten, feierte die letztklassige E-Musik-Kritik anlässlich jener Gastspielreise großartige Triumphe. Die Palme gebührt Wolfgang Schreiber von der Süddeutschen Zeitung: „Ein ganz junger Klaus Mäkelä kommt, erlebt und dirigiert die Sechste mit brennender Intensität, die Kontrastgewalt des Kopfsatzes in der entflammtesten Körperspannung, die Scheinidylle des Andante in aller Zweideutigkeit, das Scherzo als grimmig-schöne Rhythmusschieflage und das Finale im Zwang zur Zerstörung aller Lebenskraft durch brutale Hammerschläge. Klaus Mäkelä beeindruckt durch Unruhe in der Ruhe und Willen zum Äußersten.“ Wie verfällt man auf so etwas, wenn die Aufführung, die zu besprechen man beauftragt worden war, alles Mögliche bot, aber gewiss nichts, was sich als intensiv, kontrastreich, doppelbödig, brutal, extrem usf. bezeichnen ließe? Schreiber war von 1978 bis 2002 Musikredakteur der Süddeutschen. Was sagt das über die Qualität dieses Qualitätsmediums? Im RBB meint ein Andreas Göbel, ohne mit einem Halbsatz näher auf Mäkeläs Mahler-Auffassung einzugehen und ein klitzekleines Beispiel parat zu haben: „Eine der besten Mahler-Aufführungen der letzten Jahre, eine absolute Sternstunde.“ Eine der besten – absolut – Sternstunde. Ohne jeden Beleg, ohne jedes Argument. Was für dummes Zeug. In der FAZ hingegen deliriert ein Lohnschreiber, dass Mäkelä zwar einerseits „keinen Akzent, kein überfallartiges Crescendo ungenutzt [habe] vorüberziehen“ lassen – was schlicht falsch ist –, doch andrerseits und dessen ungeachtet nicht in der Lage gewesen sei, „Mahlers düstere[n] Hintergrund“ spürbar zu machen und „abseits der bloßen Intensität auf den eigentlichen Klang des Orchesters einzuwirken“. Hä? Ausführlichere Auseinandersetzungen mit solchem Feuilletonquatsch erübrigen sich
Worauf es ankommt: Sowohl die Claqueure als auch der einsame Nörgler von der FAZ haben keinen Schimmer. Ein Blick in die Partitur genügt, um zu erkennen, dass Mäkelä weit davon entfernt ist, den Angaben und Anweisungen des Notentextes punktgenau zu folgen (und die höhere Wahrheit der Musik zu finden). Stattdessen: abgemilderte Akzente und Crescendi, eingeebnete Kontraste, entschärfte Disparitäten, nivellierte Klangperspektiven, gesoftete Klangmischungen… Mäkeläs Mahler fällt so aus, wie man es vom Mainstream der Mahler-Interpretationen – der einen seiner hotspots in Amsterdam hat – gewohnt ist. Was die Rezensenten sog. Qualitätsmedien nicht daran hindert, in superlativischen Marketingjargon zu verfallen und zu behaupten, dass das, was sie gehört zu haben glauben und in Wirklichkeit gar nicht da war, dem Wesentlichen im Wege gestanden habe – dessen Verwirklichung freilich genau das vorausgesetzt hätte, was sie absurderweise kritisieren. (Genaugenommen ist diese Kritik doppelt töricht: Sie tadelt etwas, das gar nicht da war, das allerdings, wäre es vorhanden gewesen, zu jenem Ergebnis geführt hätte, das dem Kritiker vorschwebte.)
Im Ernst: Wer liest, will, braucht so etwas? Die Sache ist die: Seriöse Musik-Kritik wäre nicht nur darauf aus, Laien Orientierung zu geben und Kennern neue Gesichtspunkte zu zeigen, sondern auch in der Lage und bereit, die Spreu vom Weizen zu trennen und der Tendenz zum kleinsten gemeinsamen Nenner entgegenzuwirken. Nicht zuletzt und ganz besonders bestünde ihre Aufgabe darin, zu „begreifen, was uns ergreift“ (um eine Wendung Emil Staigers aufzugreifen). Das Problem: Wir leben in einer Welt, die die Fähigkeit zum Begriff zerstört, und das, „was uns ergreift“, ausschließlich nach subjektiven Kriterien beurteilt.