Donald John Trump (DT) – Proto-Protagonist und prime propagandist eines late capitalist fascism/fascist late capitalism – entkommt einigen Kugeln, die er umgekehrt nur allzu gern echten oder eingebildeten Widersachern gegönnt hätte. Trumpisten ergehen sich nach diesem Ereignis in Behauptungen, von denen nicht immer klar ist, ob sie nur für die Galerie oder tatsächlich in vollem Ernst gemeint sind. Das Kriterium, Teil einer illusionären Gesamtkonstellation zu sein, erfüllen sie allemal. Spätestens seit DTs Wahlsieg 2016 gleicht eine Hälfte der US-amerikanischen Gesellschaft, Trumpworld, einem Möbiusband, dessen psychologische Vorderseite (Ressentiment, Bigotterie) eine sozio-politische Rückseite (Fragmentierung, Identitarismus) unendlich fortsetzt (und umgekehrt). Der reale gesellschaftliche Kontext verschwindet in dieser Schleife, die ein in sich geschlossenes System aufrechterhält, das, ohne Zugang zu den Bedingungen seiner Möglichkeit, sich selbst zugleich reproduziert und ad absurdum führt. Kein Wunder, dass hier Paranoia Platz greift. (Aus der Psychoanalyse weiß man, wie schwierig es ist, Illusionen, Fiktionen, Phantasmagorien zu decouvrieren, die einem Individuum heilig sind. Um wie viel schwieriger ist es noch, dies für Kollektive zu tun.)
Hinter vorgehaltener Hand verhöhnt DT seine evangelikalen Gönner (von denen die meisten ohnehin nur des almighty Dollar wegen in the religious trade sind), während er andrerseits – ein Zeichen malignen Größenwahns – wirklich davon überzeugt ist, eine vorherbestimmte märtyrerhafte Mission zu erfüllen. Die Tatsache, um ein Haar einem Anschlag entkommen sein, wird, zusammen mit dem kurz zuvor vom Supreme Court gegebenen Immunitätsversprechen, das Gefühl des Auserwähltseins noch einmal verstärkt haben. DTs öffentliche Ehrerbietung gegenüber der Religion ist für die Galerie, aber todernst meint er es damit, dass ausschließlich er, als politischer Messias, die USA retten könne. So sehr die Rechten und Ultrarechten mit ihrem owning the libs für die eigene Galerie spielen, so ernst nehmen sie es mit ihrem Vorhaben, liberal America zu liquidieren. Was von außen betrachtet eine regressiv-phantasmagorische Konstellation ist – Faschismus on the brink of success –, erscheint der MAGA-Bewegung als Kampf um Freiheit & Gerechtigkeit. (DT: „I'm not an extremist at all. [...] Last week I took a bullet for democracy.“) Weil der Trump- bzw. MAGA-Kult auf nicht- bzw. postfaktischen Voraussetzungen beruht, mithin nur funktionieren kann, indem er seine Anhänger affektiv einbindet, wird die Fähigkeit, für die Galerie rituals of populism zu vollziehen und acts of incensement zu inszenieren, zu einer Kernkompetenz. Der Preis, der dafür zu zahlen ist, ist, abgesehen vom Bruch mit der Wirklichkeit, eine umfassende Selbst- und Fremdverdummung, in deren Folge alle Begriffe und Maßstäbe ihre Bedeutung verlieren und in ihr Gegenteil übergehen. Innerhalb der MAGA-Schleife gilt DT als rechtschaffener Mann, als unermüdlicher Advokat der plain folks of the land. Das wäre, wenn es nicht so absurd wäre, beinahe lustig.
Ist erst einmal der Preis der Selbst- und Fremdverdummung entrichtet, wird die diametrale Verdrehung von Worten und Fakten zur zweiten Natur. Dass mitunter kaum zu entscheiden ist, ob solche Inversionen der Wahrheit Ausdruck von Berechnung oder Dummheit sind, mag daran liegen, dass eine Dummheit auch aus Berechnung begangen werden und Berechnung auch das Ergebnis von Dummheit sein kann. (Oder um auf die zwei Begriffe der Überschrift zu verweisen: Wahnsinn kann auch Methode haben, eine Methode auch wahnsinning sein.) Was also ist mit jenen Behauptungen, dass die Demokraten und Biden persönlich für den Vorfall verantwortlich seien, weil das Bedürfnis, DT als autoritären Faschisten darzustellen, linke Gewalt heraufbeschwöre? (Als wären es nicht umgekehrt und ausschließlich DT und der MAGA-Kult, deren politische raison d'être es ist, Hass zu schüren und zu Gewalt aufzurufen.) Gehören solche Behauptungen zur MAGA-Kernkompetenz politics as performance art oder sind sie wirklich ernsthaft gemeint? Berechnung oder Dummheit? Berechnete Dummheit oder dumme Berechnung? Vermutlich trifft alles zusammen zu. (In Mein Kampf betont Hitler, man müsse den Massen, um zu sie beherrschen und zu manipulieren, simple Feindbilder einhämmern (= Berechnung). Was andrerseits jedoch nicht ausschließt, dass er seinen eigenen Lügen aufsaß (= Dummheit).) Der Zweck des Ganzen ist jedenfalls, DT gegen jede Art von Kritik abzuschotten. Bekanntlich hat in Kulten der Führer immer Recht. Was der MAGA-Kult will, ist, Führer Trump von allen Fehlern freizusprechen, ihn heiligzusprechen.
Als wäre das nicht schon beunruhigend genug, beginnt diese Strategie über die Trumpwelt hinaus zu wirken. Joseph Biden und die Demokratische Partei (bzw. deren Führung) haben nach dem Attentat entschieden, auf aggressives Anti-Trump-Campaigning zu verzichten. Biden – Dauerziel Trumpscher Beleidigungen – entschuldigte sich für frühere Äußerungen. Der Zwischenfall in Butler/Pennsylvania war das Beste, was DT passieren konnte. Er wird dessen Märtyrer-Image festigen, vor allem aber als Vorwand dienen, um Angriffen der Demokraten mit dem scheinheiligen Hinweis den Wind aus den Segeln zu nehmen, dass dies nur weitere Gewalttaten provoziere. Und das vor dem Hintergrund, dass es nach wie vor und jetzt erst recht DT und die Seinen sind, die desinformieren, hetzen, auf Brutalität schwören – doch die nun nicht mehr als die Gefahr bezeichnet werden können, die sie für die andere Hälfte der Amerikaner darstellen (und, nebenbei, für die Zukunft des Planeten), ohne sich damit den Vorwurf einzuhandeln, eine Gewaltspirale in Gang zu setzen. Gewaltverherrlichung, Desinformation und Hetze gegen sog. Volksfeinde stehen nunmehr auf der gleichen Stufe wie Bestrebungen, Gewalt, Desinformation und Hetze zu verhindern. Dass Biden, die Demokratische Partei und kein kleiner Teil der nicht MAGAfizierten Bevölkerung sich aufs MAGA-Framing einlassen, ist verblüffend. Es erlaubt dem Möchtegern-Diktator DT und seiner Anhängerschaft, das Narrativ zu kapern und weiter daran zu arbeiten, das Coup-Experiment von 2021 zu vollenden. Es erlaubt James David Vance, DTs Vize-Kandidat, einerseits die Schuld für das Attentat Biden in die Schuhe zu schieben und andrerseits das Horten von Waffen als charakteristisches Merkmal des American spirit zu loben. (Die vielen schwerbewaffneten rechten Milizen könnten ja noch für etwas gut sein.) Es erlaubt DT wie eh und je, und natürlich auch in seiner Dankesrede auf der Republican National Convention, die Demokraten dessen zu beschuldigen, was er selbst getan hat und weiterhin tut („criminalize dissent or demonize political disagreement“; „weaponizing the justice system and labeling their political opponent as an enemy of democracy“).
Das ist mehr als nur eine private Projektion. Es ist der vorläufige Endpunkt einer jahrzehntelangen Verblödungsstrategie, geführt mit allen Mitteln, die dem US-amerikanischen media-political complex zwischen Titty- und Infotainment, Televangelism und propagandistischem Agenda Setting zur Verfügung stehen. Das Desaster, das sich in den USA anbahnt, ist das Ergebnis eines unaufhaltsamen dumbing down. Selbst liberale Mainstream-Medien applaudierten DT für seine als kinoreif wahrgenommene heroic and iconic pose: die in die Luft gereckte Faust, der Ruf Fight! Fight! Fight! Womit sie nicht nur schale Hollywood-Clichés wiederkäuten, sondern einem Mann zumindest teilweise die Absolution erteilten, dessen einziges Ziel es war und ist, wie ein König zu herrschen. Wie ein König ist nicht hyperbolisch gemeint. Der Supreme Court räumte DT de facto absolutistische Befugnisse ein, und nach dem sog. Wunder von Butler sprechen ihm MAGAfizierte Medien königliche Eigenschaften zu. Die Mainstream-Medien tun im Zeichen falscher Ausgewogenheit nichts, um diese Idolatrie zu konterkarieren.
Man darf mit Gore Vidal fragen: Wann begann in den Vereinigten Staaten der große Kretinismus? Wann wurden die Amerikaner wirklich dumm? Eine Wasserscheide war sicher die Aufhebung der fairness doctrine: jener zwischen 1949 und 1987 bestehenden Vorschrift der Bundeskommunikationskommission, derzufolge Inhaber von Rundfunklizenzen kontroverse Themen von öffentlichem Interesse in einer Weise darzustellen hatten, die ehrlich, gerecht, ausgewogen sein sollte. Die Beseitigung dieses politischen Grundsatzes unter dem Kretin Ronald Reagan ermöglichte die flächendeckende Entstehung/Verbreitung von talk radio-Stationen und, 1996, die Gründung des rechten Propagandasenders Fox News. Ohne Fox News läge der durchschnittliche IQ der US-Bevölkerung um einige Punkte höher, und ohne Fox New hätte es ein kretinistischer, megalomanischer Serien-Pleitier aus Gotham nie geschafft, Präsident zu werden und eine Hälfte der US-Bürger in Trumpheads zu verwandeln.
Nachbemerkung I:
Quasi zeitgleich zur Fertigstellung dieses Blog-Eintrags erklärte Joseph Biden seinen Rückzug von der Kandidatur. Das ändert nichts an der obigen Analyse, vielleicht aber etwas an der allgemeinen Prognose insofern, als es die Chance eröffnet, wieder mit mehr Vehemenz gegen den Trumpitalismus aufzutreten, als Biden zu investieren bereit oder fähig war.
Nachbemerkung II:
Als Strategie, dem
Trumpitalismus zu Leibe zu rücken, hat sich inzwischen herauskristallisiert, seine Galionsfiguren als
weird
bzw.
weirdos
vorzuführen. Tatsächlich scheint das einerseits zu wirken. Andrerseits ist es symptomatisch für ein politisches Ökosystem, worin vernünftige Argumente, stichhaltige Beweisführungen, begriffliche Strenge, intellektuelle Reife nurmehr eine kleine bis keine Rolle spielen. MAGA-Faschisten als
weirdos
verspotten ist sicher lustig (inhaltlich zutreffend allemal), doch zu wenig, um dem, was auf dem Spiel steht, gerecht werden zu können.