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Seit der Zeitenwende 1989/1990 ist in den Kultur-Rubriken der Qual.Medien das Ende des öffentlichen Intellektuellen ein beliebtes Thema. Denn: Wo es zum Neoliberalismus scheinbar keine Alternativen mehr gibt, wenn dessen Ideologie in jeder Hinsicht hegemonial geworden ist, besteht kein Grund, fundamentalkritischen Stimmen weiterhin Gehör zu schenken. Differenzierter zu sein als der Durchschnitt, darin bestand, sagen wir seit der Dreyfus-Affäre, die öffentliche Aufgabe des Intellektuellen. Ein Hauptkennzeichen des neoliberalen Dauer-Biedermeier ist die Einschmelzung aller Unterschiede zu einem ironischen Anything goes! oder zynischen Who really cares? Das allbekannte pseudo-selbstkritische Ritual vormaliger Intellektueller, ihren Frieden mit dem status quo zu schließen: Es folgt den Regeln neoliberaler Praxis und Moral. Wer mit den Wölfen essen will, der muss mit den Wölfen heulen. Gute Chancen, weiterhin in den Qual.Medien stattzufinden, hat der öffentliche Intellektuelle unter neoliberalen Bedingungen nur, wenn er seine eigene Obsoleszenz bejaht: seine Daseinsberechtigung nun darin sieht, nichts zu sehen, was gegen den status quo sprechen könnte.


Ob Hans Ulrich Gumbrecht – u. a. ja auch Autor eines Buches über Sechzehn Intellektuelle des langen 20. Jahrhunderts – sich eines Tages dazu entschlossen hat, mit den Wölfen zu heulen und zu essen, weiß ich nicht. Fest steht jedoch, dass ein von ihm verfasster, in der NZZ erschienener Artikel über den US-Wahlkampf zum Dümmsten gehört, was bisher zu diesem Thema verbreitet wurde. (Da die Wahl in wenigen Tagen stattfindet, ist kaum anzunehmen, dass bis dahin ein noch einfältigerer Text auftaucht.) Der Artikel übererfüllt alle Merkmale eines Denkens, das zwischen Anything goes! und Who really cares? einfach abdankt. (Strafverstärkend wirkt: Gumbrecht besitzt seit 2000 die US-amerikanische Staatsbürgerschaft.) In aller Kürze: Gumbrecht meint, die politischen Differenzen zwischen Harris und Trump seien so gering, dass die Entscheidung der WählerInnen nicht ideologischen Prämissen, sondern nur persönlichen Sympathiegefühlen folgen könne. Die „Fernsehdiskussionen zwischen den Bewerbern für Präsidentschaft und Vizepräsidentschaft [haben] deutlich gemacht, dass ihre expliziten Zukunftsprogramme höchstens graduell voneinander abweichen.“ (In Wirklichkeit verhält es sich so: „Many Americans [und Gumbrechts] do not understand that we are on the verge of a type of apocalypse in this country if Trump and his MAGA Republicans and the larger fascist movement win this week’s election. This lack of engagement may be from a lack of information or a failure of imagination. The future of the country is literally at stake. If we go over this cliff there’s no way back. The people who don’t understand the extreme dangers of Trump and MAGA are living in a fool’s paradise. The people who understand how dire this situation is are terrified right now. That is a rational response given the reality of the dangers.“)


Gumbrechts false equivalences im Detail ad absurdum zu führen, kann man sich sparen. Klar ist: Präsidenten/Präsidentinnen der US of A werden immer Präsidenten/Präsidentinnen der US of A sein. Außenpolitisch werden die materiellen Notwendigkeiten des US-amerikanischen Neoimperialismus immer Priorität haben, unabhängig davon, ob der Mann/die Frau an der Spitze den Demokraten angehört oder den Republikanern. Innenpolitisch den Wünschen der US-Oligarchie zu entsprechen, wird ihm oder ihr, egal, ob DemokratIn oder RepublikanerIn, stets ein Hauptanliegen sein. Und doch ist es 2024 ausnahmsweise einmal nicht so, dass die Entscheidung zwischen den Kandidaten, wie sonst, der zwischen Coke und Pepsi gleicht, auf subjektive, allenfalls graduell voneinander abweichende Vorlieben hinausläuft.


In welcher Blase lebt Gumbrecht eigentlich? Was rhetorisch gefragt ist. Seine Aufgabe als Intellektueller, der im Kulturteil der neoliberal-reaktionären NZZ stattfindet, besteht darin, die politischen Gefahren einer zweiten Trump-Präsidentschaft – eines fascist-leaning Christian ethno-nationalist capitalism – herunterzuspielen, indem er beiden Kandidaten attestiert, denselben unpolitischen, nachideologischen Fluchtpunkt zu haben. Ein extremer Fall von bothsidesism. Was Gumbrechts Artikel zum dümmsten aller US-Wahlkampf-Artikel macht, ist die Behauptung, dass auf die WählerInnen eine Entscheidung warte, „wenig Einfluss auf ihr individuelles Leben nehmen wird“. Damit spricht Gumbrecht, um nur ein Beispiel zu nennen, den Millionen Frauen, denen unter Trump ein nationales Abtreibungsverbot droht, zweifellos aus der Seele. Trump und Harris, so Gumbrecht, „verkörpern nicht mehr konzeptuelle Anweisungen für die Zukunft, sondern eher Bilder von angenehmer und deshalb zu bejahender individueller Existenz, mit denen sich ihre Anhänger identifizieren“. Dies im Einzelnen zu kommentieren, lohnt nicht. Es entspricht einer Ideologie, die sich post-ideologisch gibt, um von den ökonomischen, politischen, moralischen, intellekuellen Verheerungen, die sie anrichtet, abzulenken.


Hier allen Gumbrechts dieser Welt zur Erinnerung, weshalb Trumps und Harris’ „Zukunftsprogramme“ NICHT „höchstens graduell voneinander abweichen“ und Trumps Vierjahresplan, wenn umgesetzt, die USA in eine faschistische Diktatur verwandeln würde. Trump hat u. a. versprochen bzw. angekündigt:


– Joseph Biden und überhaupt alle politischen Gegner gerichtlich zu verfolgen

– ihm unliebsame Medien zu verbieten

– illegale UND legale Immigranten millionenfach erst in Lager zu sperren und dann zu deportieren

– die Nationalgarde einzusetzen, um Obdachlose in Lager zu sperren

– im Inneren Militär einzusetzen, um gegen Proteste vorzugehen

– ein nationales Abtreibungsverbot zu erwirken

– im großen Maßstab die Todesstrafe zurückzubringen

– Preiserhöhungen in Kauf zu nehmen, die aus seiner Tarif-Politik resultieren würden

– das Erziehungsministerium abzuschaffen und öffentliche Bildung, wann immer möglich, zu privatisieren

– Gesundheitsprogramme, wann immer möglich, zu privatisieren

– alle Umweltauflagen aufzuheben und der Industrie für fossile Brennstoffe freie Hand zu lassen

– für Reiche erneut Steuern zu senken

– keine Einschränkungen des Zweiten Verfassungszusatzes zuzulassen

– Minderheitenrechte abzuschaffen

– verurteilte Randalierer des 6. Januar 2021 zu begnadigen

– die Befugnisse der Bundesregierung zu beschneiden und Karrierebeamte durch MAGA-Anhänger zu ersetzen

– einen white Christian nationalism quasi als Staatsreligion zu etablieren

– flächendeckend MAGA-RichterInnen zu ernennen


(usw. usf.)


Mithin eine klare Sache: Bei der Wahl Harris vs. Trump geht’s nicht wirklich um was, und ganz, ganz bestimmt ist Gumbrecht der gesellschaftlichen, der politischen Realität seiner Wahlheimat superdicht auf der Spur, wenn er davon überzeugt ist, ein Sieg Trumps würde das Leben der US-AmerikanerInnen kaum tangieren...


Nachbemerkung I:


Auf der Website der NZZ findet sich zum selben Thema ein Video-Interview mit dem Politologen Stephan Bierling (abrufbar auf YouTube). Ich habe es mir nicht angehört, doch sollte der Tenor des Gesprächs der Kurzbeschreibung entsprechen – „Harris ist auch nicht besser als Trump“, und „als Ursache für [die] Einigkeit zwischen Republikanern und Demokraten sieht Bierling den seit zwanzig Jahren jeweils äusserst knappen Ausgang der Präsidentschaftswahlen. [...] Die Wahlkampfparolen beschränkten sich infolgedessen meist auf Negativbotschaften, mit denen man den Konkurrenten zu diskreditieren versuche.“ –, könnte hier das Reflexionsniveau von Gumbrechts Artikel noch unterboten worden sein.


Dass es Menschen gibt, die wirklich meinen, Harris und Trump seien gleich schlimm, ist schwer zu verstehen. Obwohl... Es gibt ja auch welche, die glauben, dass Immigranten die Haustiere ihrer autochthonen Nachbarn fangen und verspeisen. Oder die davon überzeugt sind, dass die Injektion von Bleichmitteln gegen COVID-19 schütze. Oder die den Einsatz von Atomwaffen zur Zerstörung von Wirbelstürmen klasse fänden. Oder die steif & fest behaupten, dass in US-Schulen, ohne die Zustimmung der Eltern natürlich, SchülerInnen geschlechtsangleichenden Operationen unterzogen werden. Oder die damit angeben, dass grabbing women by the pussy ihr Hobby sei. Oder die windmill noises für Walsterben und Krebs verantwortlich machen. Oder die erzählen, George Washingtons Kontinentalarmee habe als Erstes alle Flughäfen besetzt. Oder die sich sicher sind, dass Waldbrände verhindert werden könnten, wenn man regelmäßig den Waldboden harkt und putzt. – Je nun, die Welt ist voller Dumpftröten. Da kann man nichts machen, gell. Lässt sich nicht verhindern. Und überhaupt, es ist immer besser, wenn die Klügeren das Feld räumen. Im Grunde sind wir doch eh alle plemplem. Welcher Besserwisser will sich schon anmaßen zu entscheiden, wo die Grenze zwischen Gut und Schlecht verläuft. Es ist halt alles relativ. Nicht wahr? Am Ende doch total egal.


Nachbemerkung II:


Dass der Trumpitalismus in der NZZ und anderen Rechtsaußen-Medien Anklang findet, darf nicht überraschen. Trump ist nun mal der globale poster boy eines aus allen Zwängen entlassenen, mindestens parafaschistischen Ethno-Kapitalismus. Umso irritierender, dass auf der Linken – eigentlich ein Hort der Vernunft –, ebenfalls Stimmen laut werden, die es ablehnen, zwischen Trump und Harris groß zu unterrscheiden. Fast so dämlich wie Gumbrechts Artikel in der NZZ ist ein am 2.11. in der Jungen Welt veröffentlichter Beitrag. Wer tatsächlich meint, „dass es handfeste Gründe für das Abstimmungsverhalten [pro Trump] geben könnte“, dass „sich nichts Wesentliches ändern [wird], wer auch immer ins Amt komm[t]“, dem oder der ist nicht mehr zu helfen. So status quo-orientiert eine Harris-Präsidentschaft ausfiele: Sie wäre definitiv besser als das, was Trumps faschistische Kamarilla umsetzen würde. (Trump selbst ist bekanntlich außerstande, einen geraden Gedanken zu entwickeln und zielorientiert zu handeln.) Es ist doch nicht eine oberflächliche Wahl zwischen Neocons und Tech-Bros, die den US-Amerikanern und -Amerikanerinnen bevorsteht. Worauf sie sich im Falle einer erneuten Wahl Trumps einzustellen hätten, ist kein Geheimnis. Warum beteiligen progressive Medien sich daran, Trump zu normalisieren? (Sollte er die Wahl tatsächlich ein zweites Mal gewinnen, werde ich die Antwort nachreichen...)

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